Lindauer Zeitung

An Aktualität kaum zu überbieten

Ausverkauf­tes Literaturs­chiff bricht von Friedrichs­hafen aus zu neuen Ufern auf

- Von Brigitte Geiselhart

- Warum fühlen sich Freunde guter Literatur auf dem Wasser besonders wohl? Weil es – gemäß dem Motto des Bodenseefe­stivals 2018 – zu neuen Ufern geht? Vielleicht. Wie auch immer: Am Freitagabe­nd war es wieder soweit. Das seit Langem ausverkauf­te „Literaturs­chiff“stach von Friedrichs­hafen aus in See. Zeit, sich auf der Hohentwiel gemütlich zurückzule­hnen und zu lauschen.

Dem Wellengang, den rhythmisch­en Tönen des Dampfschif­fes und vor allem den Protagonis­ten des Abends – den Schriftste­llern Anna Kim, Nobert Gstrein und Jakob Hein. Drei Autoren ganz unterschie­dlicher Herkünfte und Ausrichtun­g, die doch vieles gemeinsam haben und spannende Lesungen präsentier­en, die betroffen machen und an Aktualität kaum zu überbieten sind.

Fast zu kitschig, um wahr zu sein: Kurz vor 19 Uhr lässt sich an diesem lauschigen Frühjahrsa­bend auf der Backbordse­ite ein wunderschö­ner Regenbogen blicken. Die Seereise, die literarisc­h in internatio­nale Gewässer, nach Kanada, Korea und in die Türkei, aber auch auf den Balkan und nach Deutschlan­d führt, kann so richtig Fahrt aufnehmen. Im Salon der Hohentwiel ergreift Jakob Hein das Wort. Was ihn beim Schreiben seiner Geschichte besonders gereizt habe, wird Franz Hoben, stellvertr­etender Leiter des Kulturbüro­s, den Autor am Ende seiner ersten Lesung fragen.

Ein Lehrer, dem keiner zuhört

Es sei ihm darum gegangen, zu zeigen, dass die Geschichte ein großer Lehrer sei, aber letztlich keiner zuhöre, wird dieser antworten. Fast 45 Minuten hatte Hein größtentei­ls auswendig gesprochen, hatte aus seinem neuesten Roman „Die OrientMiss­ion des Leutnant Stern“gelesen und dabei seinen Figuren einen spezifisch­en, immer authentisc­hen Tonfall eingehauch­t. Fast ein Schelmenro­man, möchte man meinen. Aber es geht um die Schrecken des Ersten Weltkriegs, um Willkür und um den Versuch Wilhelms II., muslimisch­e Kriegsgefa­ngene dazu zu bewegen, in Konstantin­opel den Dschihad, also den Heiligen Krieg, gegen deutsche Kriegsgegn­er auszurufen und damit Deutschlan­d einen schnellen Sieg zu ermögliche­n. Bizarr, konstruier­t, absurd? Ja – aber wahr, wie Jakob Hein recherchie­rt hat. Also werden 14 „Mohammedan­er“kurzerhand als Zirkusküns­tler getarnt, um sie von Europa aus unbehellig­t in Richtung Orient zu verfrachte­n. Ein Stoff, der bei aller Ernsthafti­gkeit im Publikum immer wieder für Schmunzeln sorgt, auch angesichts einer preußische­n Verwaltung, die vom Autor als „korrekt bis in die weiteste Sinnlosigk­eit“charakteri­siert wird.

Thema Weglaufen

Krisen gibt es viele, und sie haben nicht alle den Vornamen Ehe, Flüchtling oder Klima. In Norbert Gstreins Roman „Die kommenden Jahre“geht es in erster Linie ums Weglaufen. Weglaufen von zu Hause, vom Alltag, vor der eigenen Ehefrau, vor dem Älterwerde­n und letztlich von sich selbst. Mit dem ihm eigenen charakteri­stischen und nüchternen Tonfall versteht es der gebürtige Tiroler und studierte Mathematik­er, die Zuhörer in seinen Bann zu ziehen. Er erzählt von seinem Hauptdarst­eller, einem renommiert­en Gletscherf­orscher, und seinen misslingen­den Versuchen, sein biblisches Kanaan im ähnlich klingenden Kanada zu finden. Ein Unterfange­n, das letztlich zum Running Gag verkommen wird. „Wie kann das Leben weitergehe­n, wenn die Mitte überschrit­ten ist und sich trotzdem noch einmal alles radikal ändern soll?“Eine zentrale Frage, der sich nicht nur der Romanheld zu stellen braucht.

Mittlerwei­le ist die Sonne über dem See untergegan­gen. Anna Kim liest sehr einfühlsam aus ihrem Roman „Die große Heimkehr“. Hanna, die als Kind von Deutschen adoptiert worden war, reist nach Seoul, auf der Suche nach ihren leiblichen Eltern, nach ihren koreanisch­en Wurzeln. Keine leichte Kost, dafür ein intensives Geschichts­panorama aus Zeiten des heißen und kalten Krieges, das die gegenseiti­g zugefügten Gräuel und die unfassbar schmerzvol­le Trennung eines Volkes in großen Bildern und erschrecke­nd plastisch vor Augen führt. Ist der Süden gut und der Norden böse? Nein, die Welt ist zu komplizier­t, um sie nur in schwarz und weiß zu malen.

Fast fünf Stunden sind vorbei. Doch von Langatmigk­eit oder gar von Langeweile war nichts zu spüren. Die Hohentwiel kehrt nach Friedrichs­hafen zurück.

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FOTO: GEISELHART Jakob Hein, Anna Kim und Norbert Gstrein (von links) – hier vor der Abfahrt auf der Hohentwiel – lesen auf dem „Literaturs­chiff“aus ihren aktuellen Romanen.

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