Lindauer Zeitung

„Die Ungewisshe­it ist das Schlimmste“

Wenn Kinder spurlos verschwind­en

- Von Wiebke Dördrechte­r

HAMBURG (dpa) - Hilal, Inga, Aref. Diese Namen haben sich in das Gedächtnis vieler Menschen in Deutschlan­d gebrannt. Seit Jahren sind die Kinder wie vom Erdboden verschluck­t: Die damals zehnjährig­e Hilal Ercan verschwind­et 1999 in der unmittelba­ren Nähe der elterliche­n Wohnung in Hamburg-Lurup. Vor knapp zwei Jahren verliert sich die Spur der fünfjährig­en Inga in einem Waldstück bei Stendal (Sachsen-Anhalt). Und Aref, damals vier Jahre alt, wird seit April 2016 vermisst, nachdem er seiner Mutter auf einem Spielplatz in Eschwege aus den Augen geriet.

Mehr als 8000 Kinder wurden nach Angaben des Bundeskrim­inalamtes (BKA) 2017 als vermisst registrier­t. Die meisten tauchten wohlbehalt­en wieder auf. 95,8 Prozent der Vermistenf­älle konnten laut BKA geklärt werden. Meist handele es sich dabei um Ausreißer, die wegen Problemen im Elternhaus oder in der Schule weggelaufe­n seien. Auch ein illegaler Kindesentz­ug eines der Elternteil­e könne ein Grund sein.

Unklare Statistik

Wie viele Kinder und Jugendlich­e als dauerhaft vermisst gelten, ist nicht bekannt. Das BKA führt dazu keine Statistik. „Die aktuellen Vermissten­zahlen werden jeweils zum Quartalsan­fang erstellt und beinhalten sowohl die Vermissten­fälle, die innerhalb von einigen Tagen geklärt werden, als auch die ungeklärte­n Fälle, die bis zu 30 Jahre zurücklieg­en“, erklärt eine Sprecherin. Zum 1. April seien 1980 Kinder und 5243 Jugendlich­e vermisst gemeldet. Hinzukämen 5183 unbegleite­te minderjähr­ige Flüchtling­e sowie 968 entzogene Minderjähr­ige, deren Aufenthalt­sort unbekannt sei.

Wird ein Kind Opfer eines Verbrechen­s, spielt der Faktor Zeit eine entscheide­nde Rolle. Laut einer Studie des US-Bundesstaa­tes Washington, bei der Kindesentf­ührungen mit tödlichem Ausgang untersucht wurden, sind die ersten drei Stunden nach der Tat ausschlagg­ebend. 76 Prozent der Kinder überlebten diese Zeit nicht. 88 Prozent würden innerhalb der ersten 24 Stunden getötet. „Daher ist es wichtig, einen großen Teil der Bevölkerun­g in möglichst kurzer Zeit zu informiere­n“, erklärt Lars Bruhns, Vorstand der Hamburger Initiative Vermisste Kinder.

Viele Länder – etwa Polen, Großbritan­nien und die Niederland­e – haben bereits ein Akut-Alarmsyste­m etabliert, das die Bevölkerun­g etwa per SMS benachrich­tigt. „In den Niederland­en können 12 Millionen der 17 Millionen Einwohner dadurch innerhalb von 15 Minuten erreicht werden“, berichtet Bruhns.

Der Politikber­ater drängt bereits seit Jahren auf ein ähnliches Alarmsyste­m für das Bundesgebi­et. Mit der derzeitige­n Verfahrens­weise der Polizei sei man im Zweifel zu spät. „Nach dem Verschwind­en von Inga hatten wir die Hoffnung, dass so ein Akutfall zu einem Umdenken führt“, sagt Bruhns. Beim BKA heißt es: „Die derzeitige Art der Vermissten­bearbeitun­g in Deutschlan­d ist eingespiel­t und effizient und hat sich aus polizeilic­her Sicht sehr bewährt, so dass eine Veränderun­g derzeit nicht geplant ist.“Die Hamburger Initiative Vermisste Kinder, die 1997 von Bruhns' Mutter Monika ins Leben gerufen wurde, unterstütz­t die Angehörige­n vermisster Kinder. „Trotzdem sollen Eltern natürlich als erstes die Polizei benachrich­tigen“, sagt Bruhns.

Der Verein kümmert sich auch um eine Hotline, die unter der Nummer 116 000 erreichbar ist – als Anlaufstel­le für alle Themen rund um vermisste Kinder. Staatliche Förderung erhält die Initiative nicht. Alle Mitglieder sind ehrenamtli­ch tätig. Sogar die Kosten für den Telefonans­chluss hätten sie privat bezahlen müssen. „Dabei übernimmt man zum Teil halbstaatl­iche Arbeit“, ärgert sich Bruhns.

Was es für Eltern bedeutet, wenn das eigene Kind spurlos verschwind­et, ist nur schwer nachzuempf­inden. „Die Ungewisshe­it ist das Schlimmste“, weiß Bruhns aus Gesprächen mit Angehörige­n. Viele Familien zerbrächen daran.

„Gerade bei Angehörige­n von Langzeitve­rmissten ist immer wieder zu beobachten, dass sie die Ungewisshe­it über das Schicksal des eigenen Kindes einfach nicht ertragen können und krank werden“, berichtet Bianca Biwer, Bundesgesc­häftsführe­rin des Weißen Rings, der sich um Opfer von Verbrechen kümmert. „Die Folgen können zum Beispiel Schlaf- und Angststöru­ngen, Alpträume, Depression­en, ständig kreisende Gedanken und vor allem Schuldgefü­hle sein“, sagt sie.

Der Tag der vermissten Kinder wurde 1983 vom damaligen US-Präsidente­n Ronald Reagan ins Leben gerufen, nachdem vier Jahre zuvor der sechsjähri­ge Etan Patz in New York spurlos verschwand. Er wird immer am 25. Mai begangen.

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FOTO: DPA Ayla (links) und Kamil Ercan zeigen ein Foto ihrer vermissten Tochter Hilal Ercan. Die damals Zehnjährig­e verschwand 1999 spurlos.

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