Retter mit Urkunde
Frankreichs Präsident ehrt einen mutigen Flüchtling
PARIS - Es ist ein modernes Märchen, wie Hollywood es nicht besser schreiben könnte. Die Hauptfigur ist ein Flüchtling aus Mali, der über Nacht in Frankreich zum Volkshelden wurde. Mit fast übermenschlichen Kräften kletterte Mamoudou Gassama die Fassade eines Gebäudes in Paris hoch, um im vierten Stock einen vierjährigen Jungen zu retten, der an einer Balkonbrüstung hing. „Ich habe nicht nachgedacht“, sagte der 22-Jährige, für den mit seiner spektakulären Kletteraktion ein neues Leben begann.
Nur rund 36 Stunden nach seiner Tat fuhr Gassama am Montagmorgengg im Mercedes-Van vor dem Élysée vor und wurde dort von Präsident Emmanuel Macron empfangen. In weißem Hemd und Jeans saß der Lebensretter sichtlich eingeschüchtert auf einem der vergoldeten Sessel des Palasts und erzählte noch einmal, was am Samstag passierte.
Der Fußballfan saß in einem Billig-Restaurant im 18. Arrondissement, um das Finale der Champions League anzuschauen, als er gegen 20 Uhr Schreie und Hupen hörte. Er ging auf die Straße und sah ein Kind im vierten Stock mit nur einer Hand am Geländer eines Balkons hängen. Der athletische junge Mann zögerte nicht, kletterte innerhalb von 30 Sekunden nach oben und rettete den vierjährigen Jungen. „Ich habe nicht daran gedacht, dass ich abstürzen könnte“, kommentierte er die Bilder, die ihn von Balkon zu Balkon kletternd zeigen – und ihm den Spitznamen „Spiderman“einbrachten. Millionen Menschen sahen seither das Amateurvideo des jungen Mannes, den die Schaulustigen mit Applaus und Anfeuerungsrufen begleiteten.
„Je höher ich stieg, desto mutiger wurde ich“, sagte Gassama dem Staatschef, der sich nach den Einzelheiten erkundigte. „Erst nachdem ich ihn gerettet hatte, habe ich gezittert.“Auch der Nachbar des Jungen, der das Kind verzweifelt an einer Hand hielt, meldete sich im Fernsehsender BFMTV zu Wort. „Zwischen den bei- den Balkonen gab es eine Trennwand, sodass ich ihn nicht zu mir herüberziehen konnte“, beschrieb Florian seine schwierige Situation.
Der Junge war zum Zeitpunkt der Rettungsaktion allein zu Hause, da sein Vater einkaufen gegangen war. „Das Problem war, dass er lange für den Nachhauseweg brauchte, weil er nach dem Einkauf Pokémon Go spielte“, sagte der Staatsanwalt von Paris, François Molins. Dem Vater, der allein für den Jungen verantwortlich war, drohen nun wegen Verletzung der elterlichen Aufsichtspflicht zwei Jahre Haft und 30 000 Euro Geldstrafe. Das Kind ist bereits in der Obhut des Jugendamts.
Selfies vor dem Élysée
Macron würdigte Gassamas Courage mit zwei Worten: „Bravo, merci!“Der Präsident überreichte dem 22-Jährigen eine Medaille und eine Urkunde für „Mut und Selbstlosigkeit“. Macron hatte aber noch ein größeres Geschenk für Gassama parat: eine Aufenthaltserlaubnis, gefolgt von einer schnellen Einbürgerung und einem Arbeitsplatz bei der Feuerwehr. „Das ist eine außergewöhnliche Tat, die eine außergewöhnliche Entscheidung erfordert“, begründet der Staatschef seine Reaktion. Es gehe nun aber nicht darum, alle Malier in Frankreich aufzunehmen.
Gassama, den seine neue Berühmtheit sichtlich überforderte, war nach dem 20-minütigen Gespräch mit dem Staatschef wortkarg. „Ich freue mich. Ich habe noch nie so eine Trophäe bekommen“, sagt er zu seiner Medaille. Zusammen mit seinem Bruder und seiner Freundin verewigteg er den Moment in Selfies vor dem Eingang des Élysée. Die französische Staatsbürgerschaft ist für ihn das Happy End einer fünfjährigen Odyssee, die ihn mit 17 Jahren zur Flucht aus dem vom Bürgerkrieg zerrissenen westafrikanischen Mali trieb.
Über Niger und Burkina Faso kam der Jugendliche nach Libyen, wo er nach eigenen Angaben misshandelt wurde. Wie Tausende andere Flüchtlinge überquerte er mit dem Boot das Mittelmeer nach Italien. Dort hat er laut BFMTV ein Aufenthaltsrecht bis 2022, das ihm auch Reisen in Europa erlaubt. Im September 2017 kam er nach Frankreich, wo er in einem Wohnheim in Montreuil im Norden von Paris lebt. Die Pariser Bürgermeisterin Anne Hidalgo begrüßte seine Einbürgerung. „Ich sehe darin ein positives Zeichen, was Frankreich bei Aufnahme und Integration tun kann“, schrieb die Sozialistin im Kurznachrichtendienst Twitter. Ein Seitenhieb auf Innenminister Gérard Collomb, mit dem sich Hidalgo seit Wochen einen Schlagabtausch um das Schicksal der 2300 Flüchtlinge liefert, die unter freiem Himmel in Paris hausen.