„Oberschwaben kommt mir oft globaler vor als Berlin“
Bodensee Business Forum 2018 – Der frühere Greenpeace-Chef Gerd Leipold spricht über Chancen und Risiken der Digitalisierung
ROT AN DER ROT - Gerd Leipold (67), der frühere Vorsitzende von Greenpeace International, war jahrzehntelang in der Welt zu Hause. Dann kehrte er in sein Heimatdorf Rot an der Rot zurück, um sich von dort aus – auch via Telefon- und Videokonferenzen – weiter seinem Herzensanliegen, dem Klimaschutz, zu widmen. „Die technische Vernetzung ist unglaublich wichtig, damit man auch aus der Provinz heraus global agieren kann“, sagte Leipold im Gespräch mit Hendrik Groth und Claudia Kling. Überhaupt biete die Digitalisierung „viele Chancen, die den Alltag vereinfachen werden“, gerade im Bereich der Mobilität auf dem Land. Im September wird Leipold als Referent beim Bodensee Business Forum 2018 dabei sein.
Herr Leipold, früher haben Sie in London und Amsterdam gelebt. Sie waren als Greenpeace-Chef weltweit unterwegs. Hat sich ihr ökologischer Fußabdruck seit Ihrer Rückkehr nach Rot an der Rot vor neun Jahren verbessert?
Ja, deutlich. Ich fliege viel weniger als früher. Allerdings fliege ich häufiger nach London, weil meine Kinder in England studieren, und ich fahre mehr Auto als früher. Als ich noch in London und Amsterdam lebte, hatte ich überhaupt kein Auto. Das wäre hier auf dem Land schwieriger. Aber ich habe Gemüse aus dem eigenen Garten, beziehe grünen Strom, habe Fenster mit Dreifachverglasung eingebaut, mich an die Nahwärme angeschlossen und esse weniger Fleisch.
Wie lösen Sie den Konflikt zwischen Klimaschutz und Mobilität? Fliegen beispielsweise belastet den ökologischen Fußabdruck ja enorm.
Ich fliege einfach so wenig wie möglich. Wenn ich nach Berlin muss, was sehr häufig der Fall ist, fahre ich immer mit dem Zug. Das ist angenehmer, wenn auch oft teurer als zu fliegen. Zudem arbeite ich heutzutage viel mehr als früher mit Videokonferenzen. Ich leite beispielsweise eine internationale Kooperation zum Klimaschutz, an der Institutionen aus zwölf Ländern beteiligt sind. Wir treffen uns nur einmal im Jahr. Die restlichen Besprechungen laufen via Telefon- und Videokonferenzen.
Haben sich die mobilen Kommunikationswege in Rot in den vergangenen Jahren verbessert?
Seit Kurzem haben wir ja Breitbandanschluss, das ist ein enormer Fortschritt. Es ist leichter geworden, ohne jeden Zweifel. Die technische Vernetzung ist unglaublich wichtig, damit man auch aus der Provinz heraus global agieren kann. Oberschwaben kommt mir ohnehin an vielen Orten globaler vor als Berlin. Dort gibt es viele „Communities“, die nur nach innen schauen. Hier dagegen haben viele ein hohes Bewusstsein für die globalisierte Welt, vor allem Leute, die in international tätigen Unternehmen arbeiten.
Sind Sie nach Oberschwaben zurückgekehrt, um Abstand zu bekommen von den globalen Problemen, mit denen Sie sich jahrelang beschäftigt haben?
Zunächst mal gab es ganz praktische Gründe. Als meine beiden Eltern gestorben waren, stand ich vor der Frage, ob ich das Haus übernehme. Wenn ich es nicht gemacht hätte, wäre für mich ein Teil meines Lebens, meine Heimat verlorengegangen. Auch meine Kinder, die in Kenia aufgewachsen sind, haben eine Verbindung zu Rot und zu Oberschwaben, weil sie hier immer ihre Ferien verbracht haben. Diese Verbindung für uns als Familie wollte ich nicht aufgeben.
Wie wirkt sich die Umgebung hier auf Ihren Weltblick aus?
Sehr positiv. Es ist einfach schön bei uns in Oberschwaben, und die Men- schen hier sind toleranter und freier geworden. Aber es ist natürlich auch so: Manches, was ich in meiner Jugend als eng und kontrollierend abgelehnt habe, sehe ich heute positiv. In der Großstadt interessiert sich kaum jemand für den anderen. Man ist unbeobachtet, aber eben auch leicht allein. Hier nehmen die Leute Anteil aneinander. Sie kennen sich, tolerieren sich und helfen sich gegenseitig. Darin steckt natürlich manchmal auch eine soziale Kontrolle, aber die würde dem Zusammenleben in vielen Großstädten auch guttun. Wenn wir nicht von anderen zu sozialem Verhalten ermutigt werden, tendieren wir dazu, egoistischer zu sein. Ich bin viel herumgekommen in der Welt und sehr dankbar dafür, dass ich in einem Land leben kann, wo das Gemeinwesen noch so gut funktioniert.
Sie engagieren sich seit Jahrzehnten für den Klimaschutz. Wieso hat es dieses Thema so schwer, auf der Prioritätenliste nach oben zu kommen?
Das sehe ich anders. Vor 20, 30 Jahren war man noch fast ein Exot, wenn man sich mit dem Klimaschutz beschäftigt hat. Heute ist das Thema im täglichen Leben angekommen. In Deutschland gibt es die Energiewende, die jeden betrifft. Schauen Sie doch, auf wie vielen Häusern inzwischen Solarpaneele drauf sind. Die meisten Unternehmen reduzieren ihre Emissionen. Auf globaler Ebene haben wir das Pariser Klimaabkommen, das meine Erwartungen übertroffen hat. Und wir haben einen Konsens der wichtigen Länder – auch ohne die USA –, dass etwas getan werden muss. Und sogar im Finanzsektor tut sich einiges, „green finance“ist ein wichtiges Thema geworden. Natürlich muss noch sehr viel mehr getan werden und es muss schneller gehen.
Sie wohnen in einer der wirtschaftsstärksten Regionen Deutschlands. Welche Wege sehen Sie, um den Konflikt zwischen wirtschaftlichem Wachstum und besserem Klimaschutz aufzulösen?
Ich sehe es nicht so, dass wir zwischen beiden Optionen wählen müssen. Hier in Oberschwaben brauchen wir wohl kaum Wachstum, um den materiellen Wohlstand zu erhöhen. Bei uns wird es künftig wohl eher um Themen wie Alterung der Gesellschaft und Vereinsamung gehen. Es gibt aber viele Länder, in denen die Wachstumsdebatte tatsächlich ein Riesenthema ist. Länder mit einer großen Bevölkerungszunahme, in denen viele Menschen unter dem Existenzminimum leben. Die Frage ist, in welcher Reihenfolge dort die Probleme angegangen werden. In Deutschland haben wir uns erst um die Umwelt und um soziale Probleme gekümmert, als wir bereits eine reiche Gesellschaft waren. Besser ist es, gleich nachhaltig zu wirt- schaften, als erst Reichtum und Probleme zu schaffen – und dann mit dem Reichtum die Probleme anzugehen. Und da sehe ich durchaus positive Entwicklungen. In Afrika beispielsweise sind erneuerbare Energien heutzutage nicht nur sauberer, sondern vielfach auch billiger als die traditionellen Kohle- oder Atomkraftwerke.
Wie würden Sie einen oberschwäbischen Unternehmer in Sachen Ökologie beraten?
Dass Ökologie eine Verpflichtung und eine Chance ist. Ganz klar, Emissionen und Rohstoffverbrauch müssen reduziert werden. Aber ökologische Probleme anzugehen, bietet auch wirtschaftliche Chancen. Und wenn man diese Chancen nutzt, dann darf auch der Umsatz steigen.
Welche Chancen oder auch Risiken sehen Sie in der Digitalisierung?
Zunächst muss uns klar sein: Die Digitalisierung wird voranschreiten, ob wir das wollen oder nicht. Unsere Konkurrenten in China, in anderen asiatischen Ländern und in den USA werden sich von uns nicht diktieren lassen, inwieweit es Digitalisierung gibt oder nicht. Also geht es um die Frage der Gestaltung: Und da gibt es eine Reihe von faszinierenden Möglichkeiten. Nehmen Sie doch nur das autonome Fahren als Beispiel. Das wird Menschen, die in ihrer Mobilität eingeschränkt sind, wieder neue Möglichkeiten eröffnen. Wenn sich dann noch mehrere Leute ein Auto teilen, das elektrisch und mit grünem Strom fährt, ist die Mobilität leise und klimaverträglich. Die Digitalisierung bietet viele Chancen, die den Alltag vereinfachen werden. Wie mühsam war es früher, jedem im Sportverein Bescheid zu geben. Heutzutage sind selbst viele 70-Jährige in einer entsprechenden WhatsApp-Gruppe. Über die Digitalisierung können wir eine Menge gewinnen – nicht nur über die Technologie, sondern auch für das veränderte Verhalten von Menschen.
Das klingt sehr positiv. Unterschlagen Sie dabei nicht, wie schwierig es für manche Unternehmen werden könnte?
Für die Firmen im Automobilsektor ist das sicher eine ganz große Herausforderung, nicht zuletzt weil die großen Automobilhersteller geschlafen und absehbare Zukunftstrends ignoriert haben. Andererseits hat gerade dieser Sektor eine enorme Innovationskraft. Und wir sind nach wie vor ein Land mit einem gutem Schulsystem und guter beruflicher Ausbildung. Viele Menschen hierzulande haben Gemeinsinn und Verantwortungsgefühl. Wenn sie eine Arbeit machen, wollen sie sie gut machen. Das sind Tugenden, die man durch keine Technologie ersetzen kann, und die in der Kombination mit unserem Wirtschaftssystem sehr wertvoll sind.