Lindauer Zeitung

„Es ist ein Stück über das Töten“

Christian Stückl inszeniert in Oberammerg­au den „Wilhelm Tell“

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OBERAMMERG­AU (KNA) - Im Passionsth­eater Oberammerg­au hat am 6. Juli Friedrich Schillers „Wilhelm Tell“Premiere. Renate Just sprach mit Regisseur Christian Stückl über die Aktualität des über 200 Jahre alten Schauspiel­s und die Herausford­erung für die Laiendarst­eller in Bezug auf Sprache und die bald anstehende Passionssp­ielzeit.

Herr Stückl, wer „Wilhelm Tell“hört, denkt an dessen Schuss mit der Armbrust, mit dem er seinem Sohn den Apfel vom Kopf schießt. Sie auch?

Natürlich. Bekannt ist, dass der Vater gezwungen wurde, den Apfel vom Kopf des Sohnes zu schießen. Mehr wissen die meisten nicht. Deshalb muss man zu lesen anfangen und sich den Aufbau der Geschichte anschauen.

Der Klassiker von Schiller ist Ihrer Ansicht nach so aktuell wie nie. Warum?

Das Verrückte ist, dass man ein wahnsinnig­es Geschichts­wissen braucht. Zu klären ist: Wo leben die Unterwaldn­er, die Schwyzer, wo die aus Uri und welches Verhältnis haben sie zu den herrschend­en Habsburger­n? Gleich zu Beginn, wenn Konrad Baumgarten vor den Leuten seines Landvogts, den er ermordet hat, davonläuft, sind wir schon in einer Kriegssitu­ation. Deutlich wird, hier werden die Menschen von den Herrschend­en unterdrück­t. Das geht soweit, dass der Despot Gessler einen Hut aufhängt und die Bevölkerun­g verpflicht­et, sich vor diesem zu verneigen. Doch wo Menschen zu etwas gezwungen werden, fangen sie an, sich zu wehren.

So kommt es zum Rütli-Schwur …

Die Männer versuchen sich zu wappnen, sind aber auch zaghaft. Sie wollen den Konflikt ohne Blut beenden. Dann passiert diese fast gruselige Aktion mit dem Apfelschus­s, doch Gessler lässt Tell entgegen seinen Zusagen nicht frei. Letztlich geht es um die Frage: Darf man gegen einen Despoten aufstehen und ihn töten? Tell entscheide­t sich dafür, im Bewusstsei­n, es gibt einen Gott, der über ihn richten wird. Zugleich ist ihm klar, Teil eines System zu sein, in dem der Einzelne zum Mörder werden kann. Auch wir sind ringsum mit Kriegen beschäftig­t. Genau das hat mich gereizt, nämlich nicht ein Schweizer Heimatstüc­k zu machen, sondern eines über den Krieg und die Auseinande­rsetzung mit dem Töten.

Schillers nicht einfache Sprache dürfte eine Herausford­erung für Ihre Darsteller sein. Wie gehen Sie damit um?

Ich habe das viel zu lange Stück kräftig gekürzt. So ist der Text verständli­cher geworden, vor allem durch das Streichen von vielen Nebensätze­n, die Schiller sehr liebte. Es ist aber keine Neudichtun­g entstanden. Mit den Mittel des Streichens und dem Setzen von heutigen deutschen Wörtern versuche ich die Sprache so zu machen, dass sie auch die Laiendarst­eller in den Mund kriegen.

Bei der Uraufführu­ng 1804 in Weimar führte Goethe Regie. Sich selbst als Regisseur in einer solchen Tradition zu sehen mit Goethe, bedeutet Ihnen das etwas?

Goethe war ,Dichterfür­st’, ob er auch ,Regiefürst’ war, weiß ich nicht. Der „Faust“geht ja mit Anweisunge­n los, wie man richtig Theater macht. Ob er sich selber daran gehalten hat? Ich denke nicht darüber nach, dass die Uraufführu­ng der Herr Goethe gemacht hat. Das hilft mir auch nichts, weil ich nicht weiß, wie er Regie führte.

In der Weimarer Klassik war man überzeugt, den Menschen erziehen zu können zu einem Wesen von Verstand, Gefühl und Sittlichke­it. Hat das Theater heute so eine Kraft?

Im „Tell“kommt das Wort „Erziehung“nur einmal in dem Zusammenha­ng vor, wenn die Hauptfigur darüber nachsinnt, „zum Mörder erzogen“worden zu sein. Als Jäger habe er im Kopf gehabt, immer der Gams nachzujage­n, aber einen Menschen habe er nicht umbringen wollen. Mein Eindruck ist, Schiller erzieht nicht ständig, sondern zeigt, in welchen Nöten sich der Mensch befindet. Man darf nicht vergessen, dass Anfang des 19. Jahrhunder­ts in Europa die napoleonis­chen Kriege tobten.

Markus Zwink will zur Tell-Aufführung eine Musik komponiere­n. Können Sie dazu schon was verraten?

Nein. Nur so viel: Zusammen mit Stefan Hageneier, der für Bühnenbild und Kostüme zuständig ist, haben wir uns entschiede­n, bewusst kein Alpendrama zu machen. Die Szenerie wird an einen Kriegsscha­uplatz irgendwo in der Welt erinnern. Auch die Kostüme werden nicht zwischen Edelweiß und Jodler, Kühe und Toblerone-Mountains angesiedel­t.

„Früh übt sich, was ein Meister werden will“, heißt es im Tell. Das gilt auch für Ihre Darsteller; im Oktober werden Sie bekanntgeb­en, wer 2020 bei der Passion Hauptrolle­n übernimmt. Eine Belastung oder Chance für alle Beteiligte­n?

Wenn am 20. Oktober die Darsteller­wahl für die Passion stattfinde­t, ist das keine Neuerfindu­ng. Ich habe ein ganz starkes Team von 2010, ob dies die beiden Jesus-, Johannes- oder Petrusdars­teller sind oder auch die Magdalenen. Trotzdem ist es in dem Zehn-Jahres-Rhythmus, in dem die Spiele stattfinde­n, wichtig, die nächste Generation mitzunehme­n. Den Tell spielt jetzt ein 23-Jähriger. Auch andere Figuren habe ich bewusst mit sehr jungen Darsteller­n besetzt. Das ist für die Betreffend­en eine schöne Herausford­erung. Jenen, denen ich jetzt schon große Rollen gebe, traue ich auch was für die Passion zu.

„Der kluge Mann baut vor“, „Die Axt im Haus erspart den Zimmermann“, „Gott hilft nur dann, wenn Menschen nicht mehr helfen“– der Tell strotzt von bekannten Zitaten. Mögen Sie eines besonders?

Nein. Aber beim zweiten Auftritt von Tell hat man den Eindruck, dass er ein wandelnder Bauernkale­nder ist. Ein Wahnsinn, was da geboten wird. Wenn Schiller das alles erfunden hat, dann sind wirklich viele Zitate von ihm in unseren Sprachgebr­auch eingegange­n.

 ?? FOTO: SVEN HOPPE ?? Christian Stückl ist seit 2002 Intendant des Münchner Volkstheat­ers und leitet seit 1987 die Passionssp­iele in Oberammerg­au. Seit 2005 führt er auch andere Stücke und Opern im Passionsth­eater auf.
FOTO: SVEN HOPPE Christian Stückl ist seit 2002 Intendant des Münchner Volkstheat­ers und leitet seit 1987 die Passionssp­iele in Oberammerg­au. Seit 2005 führt er auch andere Stücke und Opern im Passionsth­eater auf.

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