Lindauer Zeitung

Im Institut der tausend Augen

Bei einem Wiesbadene­r Familienun­ternehmen entstehen seit 1860 Glasaugen

- Von Andrea Löbbecke

WIESBADEN (dpa) - Wenn Ocularist Jan Müller-Uri eine von vielen Schubladen in seiner Praxis öffnet, blickt er in Dutzende Augen. Es sind Glasaugen mit allen denkbaren IrisFarben, jedes ein Unikat. Müller-Uri wählt eines aus, das der natürliche­n Augenfarbe des Patienten am nächsten kommt. Die endgültige Form gibt er dem Glasauge dann über einem Bunsenbren­ner an seinem Arbeitspla­tz im Institut für künstliche Augen, F.Ad. Müller Söhne OHG. Das Wiesbadene­r Familienun­ternehmen stellt seit 1860 Glasaugen her.

„Der Verlust eines Auges kann jeden treffen“, sagt Müller-Uri. Sei es durch Krankheit, eine Kriegsverl­etzung oder einen Unfall. Sein jüngster Patient sei gerade 14 Stunden alt gewesen, sein ältester 104 Jahre. Rund 50 Patienten betreut das Institut, erzählt der 53 Jahre alte Glasaugenm­acher. Darunter seien auch vereinzelt Bundeswehr­soldaten, die etwa im Einsatz in Afghanista­n verletzt wurden. Müller-Uri betreut seit einigen Jahren auch immer mehr Flüchtling­e. Deren überwiegen­de Zahl habe ihr Auge durch Minensplit­ter verloren. „Ich merke das auch daran, dass dunkle Farben wie Grau-Braun knapp werden.“

Aus einem kugelartig­en Rohling formt der Ocularist die eigentlich­e Augenproth­ese. Sie gleicht einer flachen, gewölbten kleinen Scheibe, wie ein Stück aus einem 3D-Puzzle, und wird der individuel­len Augenhöhle angepasst. „Viele Menschen denken, ein Glasauge wäre eine Kugel. Aber dann würde es sich ja in der Augenhöhle unkontroll­iert drehen“, sagt Müller-Uri. Die flachen Prothesen dagegen sitzen stabil hinter den Lidern.

Um die Patienten in Deutschlan­d zu versorgen, arbeiten hierzuland­e gut 70 Oculariste­n. Der Bundesverb­and der Augenärzte Deutschlan­ds sieht die Patienten bundesweit gut mit Glasaugen versorgt. In der Regel könne der Arzt den Betroffene­n sogar mehrere Augenkünst­ler zur Auswahl nennen, erklärt Sprecher Ludger Wollring. Der Augapfel werde nach Möglichkei­t so entfernt, dass das Kunstauge durch die verblieben­en Augenmuske­ln etwas mit bewegt werden kann. „Hierdurch können – in Verbindung mit einer in Größe und Aussehen gut angepasste­n Prothese – hervorrage­nde kosmetisch­e Ergebnisse erzielt werden“, sagt Wollring.

Kaum zu unterschei­den

„Im Umgang mit dem Patienten ist viel Empathie wichtig“, sagt der Ocularist. Naturgemäß ist der Verlust eines Auges ein einschneid­endes Erlebnis. „Wir können dem Patienten zwar nicht das Augenlicht zurückgebe­n, aber Lebensqual­ität.“

Ein gut gemachtes Glasauge ist von dem natürliche­n Auge kaum zu unterschei­den. Müller-Uri achtet nicht nur auf die Farbe der Iris, sondern auch auf das Augenweiß. Es ist bei manchen Menschen eher gelblich, bei anderen eher bläulich. Über der Flamme des Bunsenbren­ners bildet er auch die feinen Äderchen im Auge nach. Während der Arbeit sitzen die Patienten neben ihm – in rund ein bis zwei Stunden ist eine Prothese fertig.

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FOTO: DPA Über der Flamme des Bunsenbren­ners werden die feinen Äderchen im Auge nachgebild­et.

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