„Billiger und gesunder Wohnraum ist unser Ziel“
Eine Wohnungsgenossenschaft gibt es in Lindau bereits seit fast 120 Jahren
LINDAU - Einige Lindauer wollen eine Wohnungsbau-Genossenschaft für gemeinsames Wohnen auf der Hinteren Insel gründen. Diese „Genossenschaft in Gründung“steht damit in einer Tradition des Lindauer Genossenschaftswesens, von beispielsweise der 1874 zunächst als Verein gegründeten Konsum-Genossenschaft Lindau (bis 1967) über die 1936 gegründete bäuerliche Früchteverwertungs-Genossenschaft „Lindavia“in Lindau-Schönau (von 1987 bis 1999 eine Aktiengesellschaft, heute die „Lindauer Fruchtsäfte“der Gebrüder Widemann aus Bermatingen) bis hin zur Lindauer Eisenbahner-Wohnungsgenossenschaft von 1899 in Reutin.
Die bis 1922 selbstständige Gemeinde Reutin war damals der am dynamischsten industriell wachsende Teil des heutigen Lindaus. Seit der Einweihung der Eisenbahnlinie Bregenz-Lindau 1872 und dem sich damit entwickelnden Reutiner Rangierund Güterbahnhof samt Personenzughalt wuchs nicht nur die Industrieansiedlung, sondern auch die Reutiner Einwohnerschaft von 1908 Menschen im Jahr 1895 auf 3076 Frauen und Männer im Jahr 1910. Unter ihnen waren immer mehr Eisenbahner. Die aufkommende Wohnungsnot im bisher bäuerlich geprägten Reutin harrte einer Lösung.
Am 3. Dezember 1899 gründeten Gewerkschaftsmitglieder des Bayerischen Eisenbahnerverbandes in Lindau, heute die Eisenbahner- und Verkehrsgewerkschaft, im damaligen Arbeiterlokal „Kolosseum“, heute das Bodensee-Hotel am Berliner Platz, die Baugenossenschaft Lindau für Eisenbahnerinnen und Eisenbahner in Lindau und Umgebung. Deren in der Satzung festgelegtes Ziel sei „der Erwerb von Grundstücken und Erbbaurechten, sowie der Bau oder Erwerb von Häusern zu Beschaffung billiger und gesunder Wohnungen … Die Grundstücke und Gebäude der Genossenschaft haben dauernd dem Gegenstand des Genossenschaftsunternehmens zu dienen und dürfen daher nicht veräußert werden.“
Der Erfolg der ersten zwei großen Genossenschaftsbauten, heute die Hausnummern 17 bis 25 an der Rickenbacherstraße in Reutin, galt als mustergültig und wurde viel beachtet. Im Sommer 1931 zählte die Genossenschaft 250 Mitglieder und unterhielt 53 bewohnte Mietwohnungen.
Lindau gründet 1932 auch die heutige GWG als Genossenschaft
Lindaus neuer Bürgermeister Ludwig Siebert bat angesichts der vom Ersten Weltkrieg (1914 – 1918) hinterlassenen immensen Wohnungsnot bereits im Juni 1920 unter anderem die Baugenossenschaft „Selbsthilfe“in Nürnberg um Informationsmaterial, da nun auch er „hier mit der Gründung einer Baugenossenschaft befasst“sei, was am 28. April 1932 zur Gründung der „Gemeinnützigen Baugesellschaft Lindau (B) mit beschränkter Haftung“, heute die GWG, führte. Im Sommer 1925 gründete sich zudem in Lindaus städtischem Theatersaal der Verein „Lindauer Notgemeinschaft für Wohnungsbau“. Doch Häuser baute diese keine. Dafür beantragte die erfolgreiche Lindauer Eisenbahner-Wohnbaugenossenschaft im August 1931, mitten in der katastrophalen Weltwirtschaftskrise, Baugenehmigung und eine staatliche Bezuschussung in Form eines Baudarlehens, um auf dem inzwischen entwaldeten Reutiner Buttlerhügel 12 weitere Genossenschaftswohnungen bauen zu können. Doch der bayerische Staat konnte wegen der krisenbedingten Finanznot kein Baudarlehen gewähren, und das Neubauprojekt musste verschoben werden.
Der Geschäftsbericht von 1931 skizzierte das alltägliche Genossenschaftsleben in und rund um die Reutiner Genossenschaftshäuser wie folgt: „So wurden von fleißigen Genossen die Obstbäume gedüngt, Baumscheiben gehackt und da und dort mit Hand angelegt. Wieder andere erstellten Tische und Bänke zum geselligen Beisammensein, sodass oft an schönen Sommerabenden das Bild einer großen Familie gegeben war.“Zur Jahreswende 1931/32 wurde die Genossenschaft als gemeinnützig anerkannt, was ihr allerdings durch das Wohnungsgemeinnützigkeitsgesetz von 1989 wieder verloren ging.
Das NS-Regime besetzte im Rahmen seiner „Gleichschaltungen“im Juli 1933 die Aufsichtsrats- und Vorstandsposten mit eigenen Parteimitgliedern. Der seit 1931 beabsichtigte Neubau von zwölf Wohnungen wurde im November 1935 endgültig nicht genehmigt. Im Mai 1942 wurden alle Eisenbahner-Wohnungsgenossenschaften im heutigen Regierungsbezirk bayerisches Schwaben zu einer in Augsburg zentralisierten Genossenschaft zusammengefasst.
Nach NS-Regime, dessen Zweiten Weltkrieg sowie der daraus resultierenden erneuten Wohnungsnot, ließ die Lindauer Ortsverwaltung der Eisenbahner-Baugenossenschaft unter anderem auf dem Buttlerhügel zwischen 1949 und 1951 zwei Häuser mit zusammen 36 neuen Wohnungen für Eisenbahnerfamilien errichten. Weitere bis hin zur Rickenbacher Straße 55 folgten.
Derzeit gibt es eine Warteliste mit 200 Bewerbern
Heute vermietet die Lindauer Eisenbahner-Wohnungsgenossenschaft in Reutin 193 Mietwohnungen an Genossenschaftsmitglieder, von denen längst nur noch ein Teil tatsächlich bei der Bahn AG arbeitet. Wohnungsmieter müssen gleichzeitig auch Genossenschaftsmitglieder sein und deshalb zuvor vier Genossenschaftsanteile zu je 160 Euro erwerben. Jährlich einmal hat jedes Mitglied auf der Hauptversammlung eine Stimme. Auf jeweils drei Jahre wählen die Lindauer Mieterinnen und Mieter zudem acht Vertreterinnen und Vertreter in den Mieterbeirat. Wöchentlich einmal finden im Genossenschaftsbüro in der Rickenbacher Straße 23a durch die ehrenamtlich tätigen Hausverwalter Helmut Maschke und Martin Reich Sprechstunden statt. Die Warteliste für die mit 4,50 bis 6,70 Euro Kaltmiete pro Quadratmeter günstigen Wohnungen umfasst derzeit rund 200 Interessierte.