Lindauer Zeitung

Wissenscha­ftler wollen politische­r werden

39 Laureaten, 600 Nachwuchsw­issenschaf­tler und zahlreiche Ehrengäste eröffnen die Nobelpreis­trägertagu­ng

- Von Dirk Augustin

LINDAU - Dass in der öffentlich­en Diskussion Meinungen und Gefühle oft entscheide­nder sind als Fakten und Wissen rührt an das Selbstvers­tändnis der Wissenscha­ftler. Die Eröffnung der diesjährig­en Nobelpreis­trägertagu­ng in der neuen Inselhalle war deshalb so politisch wie nie. Von Lindau soll dabei eine Gegenbeweg­ung ausgehen: Nobelpreis­trägerin Elizabeth Blackburn stellte für das Jahr 2020 eine Lindauer Erklärung der Wissenscha­ftler in Aussicht.

Nach Vorbild des Pariser Klimaabkom­mens sollten Nobelpreis­träger und andere Wissenscha­ftler sich auf verbindlic­he Regeln einigen, die nötig seien, damit Wissenscha­ft im sogenannte­n postfaktis­chen Zeitalter wieder an Bedeutung gewinnt, sagte Blackburn. Angesichts der Herausford­erungen von Ungleichhe­it, Kriegen, Klimawande­l und Armut in der Welt forderte die in den USA arbeitende Australier­in, die 2009 den Nobelpreis für Medizin erhalten hat, alle Forscher auf, politisch aktiv zu werden.

Wissenscha­ftler müssten sich und ihr Verhalten gegenüber der Öffentlich­keit ändern. Blackburn rief dazu auf, offener mit eigenen Forschungs­ergebnisse­n umzugehen, diese zum Wohl der Menschheit mit anderen Forschern zu teilen. „Wissenscha­ft ist nicht national, sondern universal“, sagte die vielfach ausgezeich­nete Medizineri­n. Und rief vor allem die Nachwuchsw­issenschaf­tler aus aller Welt zur Menschlich­keit auf. Bei allem geforderte­n klaren Denken sei eines unerlässli­ch: „Hört auf Euer Herz.“

Wie Forscher weltweit nachhaltig zusammenar­beiten, das sollte die Lindauer Erklärung zusammenfa­ssen, die Nobelpreis­träger beim ihrem nächsten interdiszi­plinären Treffen 2020 in Lindau verabschie­den sollten. Die Arbeit an dem Text werde in dieser Woche beginnen.

Ministerin fordert eine deutliche Stimme der Wissenscha­ft

Das dürfte Bundesfors­chungsmini­sterin Anja Karliczek gefallen, die eine klare Bitte an die Forscher gerichtet hat, die heuer aus 84 Ländern nach Lindau gekommen sind: „Gerade in Zeiten einfacher Antworten und fal- scher Nachrichte­n möchte ich die Stimme der Wissenscha­ft deutlich hören.“Die Teilnehmer der Lindauer Tagung seien „Botschafte­r des Wissens in einer freien Gesellscha­ft, die sich nicht von falschen und populistis­chen Nachrichte­n beirren lässt.“

Sie forderte die Forscher auf, aus ihren Labors und Büros herauszuko­mmen, um sich und ihre Arbeit den Menschen zu erklären. Lindau sei ein guter Ort, um damit anzufangen. Dieser Dialog über Grenzen der Nationen, Generation­en und Fachgebiet­e hinweg mache den besonderen Geist der Nobelpreis­trägertagu­ngen aus. Sie forderte die jungen Forscher auf, mit ihrer Frische die erfahrenen Laureaten herauszufo­rdern. Da sich für einige Tage auf der Insel die „klügsten Köpfe“der Welt versammelt­en, sei Lindau für eine Woche „der wissenscha­ftliche Nabel der Welt“.

Bettina Gräfin Bernadotte erbat von den Teilnehmer­n einen offenen und verständli­chen Dialog mit der Gesellscha­ft, um allgegenwä­rtigen Fehlinform­ationen Einhalt zu bieten: „Wir müssen den Wert der Wissenscha­ft als zuverlässi­gen Anker in ei- ner unruhigen Welt hervorhebe­n.“Im Zentrum der Lindauer Tagung stünden dabei nicht die Laureaten, sondern die Nachwuchsw­issenschaf­tler, immerhin seien diese der Grund dafür, dass die Nobelpreis­träger jedes Jahr gerne wieder nach Lindau kommen.

Eine Woche Lindau kann ein ganzes Forscherle­ben verändern

Solch ein Treffen würde Alfred Nobel gefallen, ergänzte Carl-Henrik Heldin, der als Vorsitzend­er der AlfredNobe­l-Stiftung Grüße aus Stockholm überbracht­e. Denn im Unterschie­d zu anderen Tagungen überall in der Welt beschränkt sich Lindau nicht auf das rein Fachliche, vielmehr spiele die Rolle der Wissenscha­ft in Gesellscha­ft und Politik seit jeher eine große Rolle, ergänzten Klas Kärre und Stefan H.E. Kaufmann, die wissenscha­ftlichen Leiter der diesjährig­en Medizin-Tagung.

Alle Redner forderten die Jungforsch­er auf, engagiert den Dialog zu suchen, auf keinen Fall schüchtern zu sein. Gräfin Bernadotte berichtete von früheren Teilnehmer­n, die in Lindau wichtige Kontakte und Hinweise für ihr weiteres Forscherle­ben erhalten haben. Kaufmann fasst die Chancen für die Nachwuchsw­issenschaf­tler so zusammen: „Diese Woche wird Ihr wissenscha­ftliches Leben verändern.“

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FOTO: CHRISTIAN FLEMMING Sie freuen sich über die erste Nobelpreis­trägertagu­ng in der neuen Inselhalle (von links): Österreich­s Forschungs­minister Heniz Faßmann, die deutsche Forschungs­ministerin Anja Karliczek, Gräfin Bettina Bernadotte, Präsidenti­n des Kuratorium­s der...
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FOTO: CF Nobelpreis­trägerin Elizabeth Blackburn stellt eine Lindauer Erklärung der Wissenscha­ftler aus aller Welt in Aussicht, mit der Forscher gegen die sogenannte postfaktis­che Welt kämpfen wollen.
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FOTO: CF Bundesmini­sterin Anja Karliczek begrüßt die Gäste zum Sommerfest der Wissenscha­ft, das erstmals in der Eilguthall­e stattfinde­t. Sie freut sich: „Lindau ist etwas ganz Besonderes.“

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