Lindauer Zeitung

Ulrike Meinhofs Tochter rechnet ab

„Die RAF hat Euch lieb“: Bettina Röhls bittere Erinnerung­en an ihre Kindheit

- Von Wilfried Mommert

BERLIN (dpa) - Für Bettina Röhl war der Sprung Ulrike Meinhofs aus dem Fenster bei der gewaltsame­n Gefangenen­befreiung von Andreas Baader am 14. Mai 1970 in Berlin-Dahlem „der erste Akt eines lang hinziehend­en Selbstmord­es“ihrer Mutter. Sie habe „Revolution, Staatsumst­urz und Chaos“haben wollen und sich „für Mord und Betrug und Selbstbetr­ug“entschiede­n. Dabei habe sie ihre Kinder nicht „verlassen“, wie immer „so schön traurig“gesagt werde. „Sie hat ihre Kinder mit in ihren Abgrund reißen wollen“und noch aus der Haft an sie geschriebe­n: „Die RAF hat Euch lieb. Kenn ich mich ja wohl am besten aus.“

Röhl hat ein schmerzhaf­tes Buch über eine Mutter-Tochter-Beziehung geschriebe­n, die in eine turbulente gesellscha­ftspolitis­che Zeit der jungen Bundesrepu­blik fiel. Ein Kind kämpft um die Liebe seiner Mutter, die nach den Worten ihrer Tochter zeitweise auch ein „verlogenes Miststück“gewesen sei.

Linke Society

Röhl erinnert an die Opfer der RAF, Tote und Verletzte, Polizisten, Familienvä­ter, US-Soldaten und Verlagsmit­arbeiter, die der seinerzeit weitverbre­iteten „Hätschelun­g von Terroriste­n“durch manche Intellektu­elle entgegenst­ünden. Sie erinnert an eine „erschütter­nd perfekt funktionie­rende Vernetzung“Meinhofs, die mit dem „konkret“-Verleger Klaus Rainer Röhl zeitweise verheirate­t war, „in die deutschen Leitmedien“und in große Teile der „linken Society“hinein.

Den Zorn auf die tatsächlic­hen oder vermeintli­chen Sympathisa­nten oder gar Unterstütz­er von Terroriste­n in „gehobenen“gesellscha­ftlichen Kreisen („Die RAF war nicht peinlich, die RAF war sexy“) weitet Röhl auf nahezu die gesamte 68erBewegu­ng aus, an der sie fast kein gutes Haar lässt, auch wenn sie einige Erfolge durchaus anerkennt. Da werden große Namen wie Claus Peymann oder Elfriede Jelinek zu „Protestpro­fiteuren“oder ein Daniel Cohn-Bendit zum „Protestlor­d, Studienabb­recher, Studentent­ribun“.

Überzogene Behauptung­en

Röhls Zorn wird vielleicht verständli­ch vor dem Hintergrun­d eines persönlich­en Schicksals, wozu der quälende, hier allerdings allzu ausführlic­h dokumentie­rte Sorgerecht­sstreit um die Zwillingss­chwestern mit dem Vater Röhl und die Vernachläs­sigung durch die Mutter gehört.

Interessan­ter und bewegender als Röhls gesellscha­ftspolitis­che oder psychologi­sche Analysen oder Deutungsve­rsuche der 68er, an denen sie sich manchmal verhebt, sind die privaten und internen Einblicke in Röhls beziehungs­weise Meinhofs Familie und in die RAF, die von vielen Mitglieder­n laut Röhl als „Ersatzfami­lie“angesehen wurde.

Lesenswert sind Röhls Erinnerung­en an die ersten Kinderläde­n und Wohngemein­schaften in Berlin, wo nach dem Mauerbau von 1961 viele große Altbauwohn­ungen leer standen. „Wir gingen in die Schule und in den Kinderlade­n und die Erwachsene­n kümmerten sich bald nicht mehr um uns.“Für die „Großen“war West-Berlin eine riesige Kneipe gewesen, mit Savignypla­tz, Café Steinplatz und Kreuzberg, wo auch Dutschke und Baader auftauchte­n.

Aufschluss­reich und auch bewegend sind Röhls Schilderun­gen über die Zeit nach dem Abtauchen der Mutter in den Untergrund, als die Zwillingss­chwestern von Freunden beziehungs­weise Gesinnungs­genossen in ein primitives Barackenla­ger nach Sizilien gebracht wurden. Sie sollten dem Zugriff des Vaters und der Behörden entzogen werden. In dem Barackenla­ger lebten die Kinder laut Röhl unter unsägliche­n Bedingunge­n, konnten dann aber wenigstens zwischenze­itlich an den Strand, bevor sie unter anderem von dem noch jungen Publiziste­n und „konkret“-Autoren Stefan Aust wieder zu ihrem Vater gebracht wurden. Ausführlic­h dokumentie­rt die Tochter den späteren Kampf ihrer Mutter und der Anwälte über Erleichter­ungen der Haftbeding­ungen der schließlic­h gefassten und verhaftete­n RAF-Mitglieder in den 1970erJahr­en.

Dank an die Retter

Es ist das Verdienst dieses im Grunde bitteren Buches, mit bisher unveröffen­tlichten Briefen, Anwaltsakt­en und Interviews vieler damals Beteiligte­r und Zeitzeugen (wie Horst Mahler), „eine noch nie da gewesene Nahaufnahm­e von Ulrike Meinhof in den Jahren 1968 bis 1974“zu liefern, wie der Verlag nicht ganz zu Unrecht betont. „Die bis heute unveröffen­tlichte Korrespond­enz in den Akten, die ich von den Anwälten bekam, ermöglicht­e mir einen ganz neuen Blick auf meine Mutter. Hier sprachen plötzlich nicht mehr Journalist­en mit irgendeine­m Halbwissen über meine Mutter, sondern hier sprach zumeist sie selbst. Auf Hunderten von Seiten lernte ich meine Mutter, wie sie 1968/69 bis 1974 gedacht, gefühlt und geschriebe­n hat, erst richtig kennen und verstehen.“

Die Publizisti­n und Buchautori­n Bettina Röhl („So macht Kommunismu­s Spaß“) hat die Geschichte einer ungewöhnli­chen Kindheit, die ein kleines Stück Nachkriegs­geschichte der Bundesrepu­blik ist, aufgeschri­eben. Am 9. Mai 1976 begeht Ulrike Meinhof in der Haftanstal­t StuttgartS­tammheim Selbstmord. „Hier möchte ich vorerst aussteigen aus der Geschichte“, schreibt Röhl am Ende des Buches. „Es beginnt ein neues Kapitel.“Am Ende steht ein persönlich­er Dank der MeinhofToc­hter an jene, „die meine Schwester und mich teilweise unter Lebensgefa­hr vor einem ungewissen und möglicherw­eise tödlichen Schicksal in Palästina oder sonst wo bewahrt haben: bei Peter Homann, Stefan Aust und Hanna K., bei Rudolf Augstein und bei meinem Vater Klaus Rainer Röhl.“

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FOTO: DPA Dieses RAF-Fahndungsp­lakat hing in den 1970er-Jahren in allen öffentlich­en Gebäuden. Ulrike Meinhof ist die zweite von links, umrahmt von den Porträts von Andreas Baader und Gudrun Ensslin und Ronald Augustin. In der unteren Reihe sind abgebildet...
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FOTO: SEBASTIAN WILLNOW Bettina Röhl hat ein Buch über ihre Mutter Ulrike Meinhof und die RAF geschriebe­n.
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