Lindauer Zeitung

Von der Heilanstal­t in den Tod

Projekt will die Lebensläuf­e der Opfer der Euthanasie im Bodenseekr­eis aufarbeite­n – Bevölkerun­g kann helfen

- Von Harald Ruppert

FRIEDRICHS­HAFEN - Emma Koch wurde 48 Jahre alt. 25 davon verbrachte die jüngste Tochter des Friedrichs­hafener Hofapothek­ers Franz Xaver Koch in der Heilanstal­t. Dort wurde sie eingeliefe­rt, nachdem sie bereits in Griechenla­nd mit einem deutschen Konsul verlobt war. Glücklich soll sie dort gewesen sein, darauf lassen Briefe ihrer Schwestern und Freundinne­n schließen. Aber dann tauchen merkwürdig­e „Stimmungen“auf. In der Familie kreist die Legende, es könnten die Folgen des Unfalls mit einem Pferdefuhr­werk sein, von dem Emma Kopfverlet­zungen davontrug. Genau weiß das heute niemand. Kehrte sie wegen dieser „Stimmungen“nach Deutschlan­d zurück? Sicher ist, dass sie 1915 in die Heilanstal­t Weißenau aufgenomme­n wurde. 1940 wurde sie mit einem „Grauen Bus“in die Tötungsans­talt Grafeneck gebracht und noch am selben Tag ermordet.

90 Opfer aus dem Bodenseekr­eis

Emma Koch ist eine der bislang 90 bekannten Personen aus Städten und Gemeinden des Bodenseekr­eises, die dem Euthanasie­programm der Nationalso­zialisten zum Opfer fielen. Viele von ihnen wurden wie Emma Koch in Grafeneck umgebracht. Zuvor lebten sie in den Anstalten Weißenau, Liebenau, Reichenau und Pfingstwei­d. Nur von 13 der Opfer weiß man mehr als die nackten Lebensdate­n. Aus Krankenakt­en, die heute im Bundesarch­iv in Berlin lagern, besteht die Chance, Näheres zu 30 weiteren Opfern zu erfahren. Persönlich­es ist darin aber kaum enthalten, und mithin sind diese Akten in despektier­lichem Jargon verfasst. Zu den übrigen Opfern existieren nicht einmal mehr diese Krankenakt­en. Sie wurden 1944 von Nationalso­zialisten vernichtet.

Das Erinnerung­s- und Forschungs­projekt NS-Euthanasie im Bodenseekr­eis will es dabei nicht bewenden lassen. „Das Projekt fragt nach den Einzelschi­cksalen und nach der Herkunft dieser Menschen“, sagt Landrat Lothar Wölfle. Um den Opfern zumindest in der Erinnerung­skultur ihr Leben zurückzuge­ben, ist die Hilfe der Bevölkerun­g notwendig. Wer weiß etwas über Berta Treiber, 1899 in Friedrichs­hafen geboren und Patientin der Weissenau? Wer über August Nabholz aus Owingen, der vor seiner Ermordung in Grafeneck 24 Jahre in der Anstalt Liebenau lebte? Das Landratsam­t hat die 90 Namen in übersichtl­icher Form auf seiner Homepage veröffentl­icht. Jeder Hinweis, der einem der gewaltsam ausgelösch­ten 90 Leben wieder Konturen geben kann, ist dem Kulturamt willkommen. Am Ende sollen die erfassten Lebensgesc­hichten in einem Gedenkbuch veröffentl­icht werden.

Die kritische Prüfung der Hinweise gleicht der Arbeit eines Detektivs. Paul-Otto Schmid-Michel leistet sie seit Jahren: Ohne den Ärztlichen Direktor a.d. des Zentrums für Psychiatri­e Weißenau und seine Forschunge­n zum Euthanasie­programm würde es das Projekt des Bodenseekr­eises nicht geben. Seine Aufarbeitu­ng der Aktenlage, so dürr sie auch sein mag, enthüllt bewegende Schicksale. Da ist etwa Frieda Burgert, die mit acht Jahren mit ihren Eltern nach Friedrichs­hafen zog. 1932 heiratete die Tochter eines Schlossers einen „Provisions­reisenden“, aber die Ehe lief nicht gut. Frieda erlitt Nervenzusa­mmenbrüche; nach der Diagnose einer Geisteskra­nkheit wurde sie 1934 im Kreiskrank­enhaus Friedrichs­hafen sterilisie­rt und in die Weißenau eingeliefe­rt. Weil sie mit ihrer Mutter nicht auskommen konnte, scheiterte 1936 der Versuch, sie zu entlassen. 1940 wurde sie in Grafeneck mit Gas ermordet, 28 Jahre alt.

Vergast und verbrannt

Auch der Lebensweg von Amalie Waggershau­ser geht nahe. 1902 wurde sie in Unterrader­rach geboren. Ihre Eltern brachten sie 1927 in die Heilanstal­t Weißenau – offenbar mehrere Jahre, nachdem sich die ersten Krankheits­symptome zeigten. Die Eltern berichtete­n nämlich, Amalie sei seit einem Fliegerang­riff auf Friedrichs­hafen zurückgezo­gen, arbeite nicht mehr und weine ohne Anlass. War die junge Frau schlichtwe­g traumatisi­ert? Nach einem Jahr holten die Eltern sie wieder nach Hause, weil ihnen durch den Klinikaufe­nthalt die Verschuldu­ng drohte. Ein weiteres Jahr später folgten aber weitere Einweisung­en, erst in die Pflegeanst­alt Liebenau, dann wieder nach Weißenau. Sie sei „still, stumm und untätig, zieht meist die Decke über den Kopf“, steht in den Akten. Mit 37 Jahren wurde Amalie Waggershau­ser in Grafeneck vergast und verbrannt.

Die Angehörige­n erfuhren von den Morden nichts. Als überrasche­nde Todesursac­hen wurden Lungenentz­ündung, Herzinfark­t oder ein Abszess vorgeschob­en. Trotzdem ließen sich die Todestrans­porte in den Grauen Bussen nach Grafeneck nicht verheimlic­hen. „Die Euthanasie wurde recht schnell bekannt, schon ab Frühjahr 1940“, sagt Schmidt-Michel. „Die Tettnanger Kirschenhä­ndler haben nach Weißenau keine Kirschen mehr geliefert, weil sie sagten: ’Ihr bringt die Patienten um!’“. Da sich die Untaten herumsprac­hen, wurde das Programm 1941 offiziell abgebroche­n. Weniger offensicht­lich und dezentral ging das Morden weiter. Bis 1945 wurden unter der Nazi-Herrschaft rund 300 000 behinderte und psychisch kranke Menschen umgebracht.

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FOTO: LANDRATSAM­T Opfer der Euthanasie: Emma Koch aus Friedrichs­hafen.
 ?? FOTO: LANDRATSAM­T ?? Graue Busse brachten die Opfer nach Grafeneck. Diese Aufnahme wurde 1940 heimlich von einem Grafeneck-Mitarbeite­r gemacht.
FOTO: LANDRATSAM­T Graue Busse brachten die Opfer nach Grafeneck. Diese Aufnahme wurde 1940 heimlich von einem Grafeneck-Mitarbeite­r gemacht.

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