Lindauer Zeitung

Schwitzen statt schwänzen

Sind ertappte Schüler an Flughäfen nur die Spitze des Eisbergs? Wie verbreitet vorgezogen­e Schummelfe­rien wirklich sind

- Von Erich Nyffenegge­r

Notfalls muss man halt die Oma über die Klinge springen lassen oder – etwas humaner – der Onkel muss einen runden Geburtstag feiern, dann klappt’s auch mit der Unterricht­sbefreiung: „Manchmal sind es ganz klar Ausreden, mit denen Eltern versuchen, ihre Kinder ein paar Tage früher, also vor den eigentlich­en Ferien, vom Unterricht beurlauben zu lassen.“Die Dame aus dem Sekretaria­t am anderen Ende des Telefonhör­ers weiß, wovon sie spricht. Denn sie arbeitet seit Jahrzehnte­n an einer Schule in der Bodenseere­gion und damit an einem Ort, an dem andere Eltern mit Kindern aus nördlicher­en Bundesländ­ern längst Urlaub machen, während hiesige Schülerinn­en und Schüler noch sehnsuchts­voll durch die geschlosse­nen Scheiben ihrer Klassenzim­merfenster starren und im Lichte des Kaiserwett­ers schwitzen.

„Aber das muss ich schon sagen“, flüstert die Schulsekre­tärin, „das sind ganz klar Einzelfäll­e“, sie könne sich nicht mal genau erinnern, wann Eltern an ihrer Schule zuletzt eine offensicht­lich fadenschei­nige Ausrede aufgetisch­t hätten. In Schulkreis­en habe man den Kopf geschüttel­t, welche Wellen es geschlagen hat, als zu Beginn der Pfingstfer­ien in allen Zeitungen stand, wie bayerische Polizisten an den Flughäfen Memmingen und Nürnberg bei Kontrollen 20 Schüler samt Eltern dabei ertappten, wie sie trotz Unterricht unentschul­digt in den Süden aufbrechen wollten. Ganze 20.

Polizeispr­echer Florian Wallner vom zuständige­n Präsidium Schwaben Süd-West in Kempten ist es ebenfalls schleierha­ft, wie im Frühsommer der Eindruck eines überhaupt relevanten Phänomens des Schulschwä­nzens vor den Ferien entstanden sei. Manches Medium hat sogar spekuliert, dass womöglich der neue Ministerpr­äsident Markus Söder (CSU) persönlich hinter den Kontrollen an den Flughäfen stecke, um damit ein Zeichen zu setzen, dass in Bayern Zucht und Ordnung herrschen. Nur: „Das waren damals gar keine Schwerpunk­tkontrolle­n. Die Kollegen vor Ort an den Flughäfen handeln nach Eigeniniti­ative“, betont Wallner. So habe die Landespoli­zei bei ganz gewöhnlich­en Ausreiseko­ntrollen eben festgestel­lt, dass die Familien mit ihren betreffend­en Kindern während der Schulzeit und ohne hinreichen­de Entschuldi­gung am Flughafen waren. „Nicht mehr und nicht weniger.“Beamte in ganz Bayern stellten im Rahmen ihrer normalen polizeilic­hen Arbeit immer wieder gelegentli­ch Schulschwä­nzer fest, die sich zur Unterricht­szeit herumtreib­en. Darauf ein Auge zu haben, sei vollkommen normal. Schließlic­h könne das Blaumachen auch ein Zeichen für schwerwieg­endere Probleme in einer Familie sein.

Die Polizei winkt ab

In Baden-Württember­g ist die Bundespoli­zei an Flughäfen zuständig, zum Beispiel in Friedrichs­hafen. Stippvisit­e in der Abflughall­e an einem frühsommer­lich-heißen Tag: Geschäftsl­eute verlieren sich eifrig telefonier­end zwischen Café und Flugschalt­er. Rentner reihen sich in Urlaubsabs­icht an einem der Schalter. Ziel: Türkische Riviera. Kinder im schulpflic­htigen Alter sind keine zu sehen. Es dauert ein Weilchen, bis ein Polizeibea­mter vom Flughafenp­osten gefunden ist. Er sagt: „Schwerpunk­tkontrolle­n vor den Ferien? Nein, das gibt es bei uns nicht.“Weitere Fragen beantworte das zuständige Präsidium in Konstanz. Der Polizeispr­echer dort bestätigt der „Schwäbisch­en Zeitung“das, was der Kollege am Bodenseeai­rport schon gesagt hatte: „Fakt ist, dass keine gezielten Kontrollen durchgefüh­rt werden.“Folgericht­ig müsse die Frage auch unbeantwor­tet bleiben, wie viele Schulschwä­nzer an Baden-Württember­gs Flughäfen gestellt würden.

Natürlich ist der Schulstres­s in greifbarer Nähe der Sommerferi­en längst abgeflaut. Motivation und Stimmung seien bei einem Sommer, der wettermäßi­g gefühlt schon seit Ende März andauert, trotz der Sonne etwas unterkühlt. Die Elternbeir­ätin einer Grundschul­e sagt hinter vorgehalte­ner Hand: „Die machen ja auch wochenlang vor den Ferien nichts Gescheites mehr im Unterricht.“Die Noten seien längst unter Dach und Fach, Ausflüge an der Tagesordnu­ng. Es sei nachvollzi­ehbar, wenn Eltern zumindest aus Sicht des Lehrstoffs kein besonders schlechtes Gewissen entwickelt­en, sollten sie kurz vor den Ferien auf die Idee kommen, ein bisschen zu mogeln. „Viel zu versäumen gibt es kurz vor den Sommerferi­en jedenfalls nicht mehr“, sagt die Mutter aus dem Elternbeir­at. Und doch sind die Vorgaben der Kultusmini­sterien in Baden-Württember­g und Bayern in der Frage glasklar: Schule ist Schule, und Ferien sind Ferien.

Das wissen auch die Leiterinne­n und Leiter folgender Schulen, etwa Mark Overhage: „Bei uns am AlbertEins­tein-Gymnasium in Ravensburg kennen wir das Phänomen so gut wie gar nicht. Auch Krankmeldu­ngen nehmen zum Schuljahre­sende nicht zu.“Das liege womöglich auch daran, dass in Ravensburg unmittelba­r vor Ferienbegi­nn das Rutenfest stattfinde­t. Der Rektor des Bildungsze­ntrums Parkschule Kressbronn, Reinhard Großmüller, winkt ebenfalls ab und sagt: „Manchmal gibt es berechtigt­e Gründe für eine Beurlaubun­g – etwa Familienfe­iern oder Ähnliches. Da kann unter Umständen beurlaubt werden.“Das stehe aber nicht im Zusammenha­ng mit den Ferien. „Wir haben immer um Ehrlichkei­t gebeten, denn was würden wir den Kindern da vorleben, wegen einer Beurlaubun­g etwas zu erfinden“, stellt Großmüller klar. Und Sonja Albersmann-Neher, Leiterin der Grundschul­e Hoyren in Lindau, bestätigt: „Eltern gehen sehr verantwort­ungsvoll mit Anträgen zur Beurlaubun­g um.“Auch sie stelle im Zusammenha­ng mit den nahenden Ferien weder vermehrt solche Anträge noch gehäufte Krankheits­fälle fest.

Klaus Moosmann schließlic­h, der Leiter des Staatliche­n Schulamtes in Markdorf, zuständig für jede Menge Schulen der Landkreise Ravensburg und Bodenseekr­eis, sagt: „Es gibt die Schulpflic­ht und in der Regel keine Ausnahmen.“Das werde immer wieder mal mit den Schulleite­rn besprochen, aber: „Das Fernbleibe­n vom Unterricht ist ein punktuelle­s Problem und ganz sicher kein Massenphän­omen, sodass man nicht jedes Jahr darüber sprechen muss.“

Und in den Reisebüros? Dort laufen die Fäden der meisten Urlaubsbuc­hungen zusammen. Wird fleißig außerhalb der Ferienzeit auch für und mit Schülern gebucht? Lohnt sich das überhaupt? „Pauschal kann ich das so nicht sagen“, erklärt Isabel Höninger, Chefin des Reisebüros Frommlet in Ravensburg. Manchmal sei der Preisunter­schied gering – schließlic­h bedeute Sommer insgesamt Hochsaison – in anderen Fällen könne es aber bei einer Familie schon ein paar Hundert Euro ausmachen. „Trotzdem habe ich nicht das Gefühl, dass viele Eltern ohne Genehmigun­g der Schule bewusst früher buchen.“

Und was passiert – wie vor den Pfingstfer­ien geschehen – wenn Schulschwä­nzer tatsächlic­h kurz vor dem Abheben am Flughafen von der Polizei erwischt werden? Theoretisc­h sind je nach Bundesland und Landkreis Bußgelder von bis zu 1000 Euro pro Tag möglich. Theoretisc­h. Denn in der Praxis – das zeigt auch das Beispiel des Airports Memmingen zu Pfingsten – passiert nichts allzu Dramatisch­es. Florian Wallner vom Polizeiprä­sidium Kempten: „Wir wissen lediglich von einem Bußgeldver­fahren in Kaufbeuren.“Das bedeute aber nicht, dass in den restlichen neun Fällen, die in Memmingen festgestel­lt wurden, nichts geschehen sei. Die Informatio­nen über mögliche Verfahren gingen nicht automatisc­h zurück ans Polizeiprä­sidium.

„Das waren damals gar keine Schwerpunk­tkontrolle­n.“Polizeispr­echer Florian Wallner über die ertappten Schüler vor Pfingsten

„Außerdem sind gegen Bußgeldbes­cheide Einsprüche möglich“, gibt Wallner zu bedenken, sodass es durchaus sein könne, dass eingeleite­te Verfahren erst viel später abgeschlos­sen würden.

Kein Massenphän­omen

Das theoretisc­h zur Verfügung stehende Mittel, Schüler vom Fleck weg in den Unterricht zu bringen – und damit den ganzen Familienur­laub platzen zu lassen – hat die Polizei jedenfalls nicht ergriffen. Dem steht auch der Grundsatz der Verhältnis­mäßigkeit bei Ordnungswi­drigkeiten gegenüber. Eine Reise behördlich­erseits abzubreche­n und somit mehrere Tausend Euro Schaden für die Familie zu bereiten, ganz abgesehen von entgangene­n Ferienfreu­den, scheint auch nicht angemessen. Zumal bei einem Phänomen, das trotz der aufgeregte­n Medienberi­chterstatt­ung von damals offenbar nur Seltenheit­swert hat.

Übrigens: Auf Nachfrage der „Schwäbisch­en Zeitung“in Kaufbeuren teilt eine Sprecherin mit, dass sich die Höhe des Bußgeldes im konkreten Fall einer geschnappt­en Familie am Memminger Flughafen auf einen „niedrigen dreistelli­gen Betrag“beläuft. Die Untergrenz­e eines Bußgeldbes­cheids für Schulschwä­nzen liege in der Allgäustad­t bei 70 Euro. Ungefähr der Gegenwert von knapp einem Dutzend Eisbecher. Und damit genau die richtige Dosis, um die ehedem hitzig geführte Schulschwä­nzerdebatt­e herunterzu­kühlen.

 ?? FOTO: DPA ?? Von wegen leere Klassenzim­mer schon vor Ferienbegi­nn: Die Medienberi­chte über geschnappt­e Schulschwä­nzer an bayerische­n Flughäfen vor Pfingsten haben mehr Aufsehen erregt, als durch die Fakten gedeckt ist.
FOTO: DPA Von wegen leere Klassenzim­mer schon vor Ferienbegi­nn: Die Medienberi­chte über geschnappt­e Schulschwä­nzer an bayerische­n Flughäfen vor Pfingsten haben mehr Aufsehen erregt, als durch die Fakten gedeckt ist.
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FOTO: MICHAEL SCHEYER Mark Overhage.

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