Neue Blicke auf alte Kunst
Der niederländische Künstler Esper Postma eröffnet „Rebis“im Cavazzen
LINDAU - Die am Freitag eröffnete Sonderausstellung „Rebis“im Rahmen des Projekts Cavazzen gibt sich, was die Anzahl der Kunstwerke angeht, bescheiden. Was die Aussage des niederländischen Künstlers Esper Postma angeht, bereichert sie mit neuen Erkenntnissen. Zum Thema Visualisierung von Geschlechterrollen. Für die Auseinandersetzung hat er sich drei religiöse Bildwerke aus dem Stadtmuseum ausgewählt und sie in einen neuen künstlerischen Kontext gebracht.
Das aus dem Lateinisch stammende Wort „Rebis“steht für „zwei Dinge“und meint die Vereinigung zweier Prinzipien, dem männlichen und dem weiblichem, zu einem höheren Dasein. Konkret um den Versuch, Albrecht Dürers „Der Sündenfall“zu einem Rebis-Bild zu vereinen. Was das aus Sicht des 1988 geborenen, in Amsterdam und Berlin lebenden Esper Postma bedeutet, erfahren die Besucher im oberen Stockwerk. Silvia Wölfle vom Stadtmuseum hat in Vertretung von Museumsleiterin Barbara Reil das Konzept der drei bespielten Räume vorgestellt. Mit Blick auf die anstehende Sanierung des Cavazzen stünden schon die meisten Räume leer. Um aber einige Exponate für die letzten Wochen, in denen das Museum noch geöffnet ist, in einen neuen Kontext zu rücken, habe Barbara Reil Esper Postma um seine Auswahl gebeten. Entschieden hat er sich für das Bild der Heiligen Wilgefortis, auch Kümmernis genannt. Für eine Reihe Dachziegel, die bis heute unter dem Namen „Nonne und Mönch“firmieren und deren Art der Dachdeckung bis in die Antike zurückreicht. Und für eine farbig gefasste Marienfigur aus dem 15. Jahrhundert, die aus einer Kreuzigungsgruppe stammt. Parallel dazu sind die Fenster mit bodenlangen purpurfarbenen Vorhängen verhängt. Sie geben sich von Raum zu Raum transparenter, bis hin zum letzten offen gelassenen Fenster.
Betritt man die Räume, bestimmt das Gefühl von unerwarteter Leere den ersten Eindruck. Sind es die meisten Besucher doch gewohnt, Fülle geboten zu bekommen. Doch schnell stellt sich ein Gefühl von Befreiung ein mit der Aussicht, sich nur auf jeweils ein Objekt einlassen zu brauchen. Im Falle des Gemäldes der Heiligen Kümmernis hilft die überlieferte Legende weiter, um einen Bogen zum Thema Geschlechterrollen zu schlagen. Die einstige Prinzessin Wilgefortis sollte gegen ihren Wunsch verheiratet werden. Um sich dem zu entziehen, betete sie darum, dass ihr ein Bart wachsen möge. Dieses androgyne Erscheinungsbild büßte sie als Märtyrerin am Kreuz. Nun gibt es aus dem Dom von Lucca das als „Volto Santo“verehrte „Heilige Antlitz“des gekreuzigten Christus in langer purpurfarbener Tunika, unter der sich im Brustbereich leichte Wölbungen abzeichnen. In der Folge, als das Werk aus Lucca hierzulande bekannt wurde, begannen sich die vermännlichte Wilgefortis und die feminine Christusgestalt zu überlagern.
Wie „Mönch und Nonne“sich auch begegnen können
Angesichts der als Bodeninstallation platzierten Dachziegel ließe sich viel über deren Funktionalität im Falle einer Dachdeckung diskutieren. Nur ist die Lesbarkeit von „Nonne und Mönch“hier eine andere. Esper Postma hat die Ziegel so, wie sie im Falle einer Dachdeckung aufeinander liegen, genommen und aufrecht positioniert. Mönch liegt somit nicht mehr auf Nonne, sondern beide begegnen sich auf derselben Ebene.
Die trauernde Muttergottes im dritten, dem hellsten Raum ist ihrem einstigen Kontext gleich mehrfach enthoben. Sie steht ohne Sockel und Glasschutz auf dem Boden. Man schaut nicht mehr zu ihr hinauf, sondern auf sie hinunter. Sie ist zum Greifen nah und man wird ihrer eigentlichen Größe gewahr. Erlebt der Besucher sie als Trauernde oder wirkt sie in ihrer Verhaltenheit eher wie eine adlige Dame, die ihren Mantel vor das Gesicht zieht?