Die Nacht hat viele Gesichter
Das Jugend-Sinfonieorchester Aargau begeistert beim Konzert in der Stephanskirche
LINDAU - Ein Klangerlebnis, das unter die Haut ging: Wie im Vorjahr war das Jugend-Sinfonieorchester Aargau mit seinem Sommerkonzert zu Gast in der Stephanskirche. Und wiederum durften sich die begeisterten Besucher davon überzeugen, dass dieser Klangkörper unter der Leitung von Hugo Bollschweiler nicht nur durch jugendliche Leidenschaft, sondern auch durch bemerkenswerte Reife zu gefallen weiß.
Was an diesem wunderbaren Abend aber genauso erfrischend rüberkam, war die Tatsache, dass der Funke der vor Spielfreude nur so sprühenden jungen Musiker wie selbstverständlich auf das Publikum übersprang und somit auch den gewünschten Moment der inneren – vielleicht sogar spirituellen – Einkehr ermöglichte.
Die „Nacht“– so lautete das Motto des diesjährigen Konzertprogramms – hat viele Gesichter. Freudige, angstvolle und ausweglose. Strahlende Sterne auf der einen, das Dunkel des Todes auf der anderen Seite. Fantasie und Traum, aber auch Albtraum. Ein damals junger Mann, der dem nächtlichen Schabernack und Unwesen der Gnome und Elfen der Shakespeare’schen literarischen Vorlage einen spritzigen Ausdruck verleiht. Ein polnischer Pianist, dessen späteres Leben und Werk vom Überleben des Holocausts und der Nacht des Warschauer Ghettos geprägt wurde und der trotzdem zur musikalischen Leichtigkeit zurückfand. Ein damals schon berühmter Komponist, der in der Finsternis und Katastrophe des Ersten Weltkriegs und während einer eigenen Sinnkrise ein völlig neuartiges Werk zu schaffen in der Lage war. Keine Frage, mit Felix Mendelssohn-Bartholdys Ouvertüre zu „Ein Sommernachtstraum“, Orchesterstücken von Wladyslaw Szpilman der Sinfonie Nr. 5 in Es-Dur von Jean Sibelius hat sich das Jugend-Sinfonieorchester Aargau keiner leichten Herausforderung gestellt, um die ganz unterschiedlichen Facetten des Konzertmottos zu interpretieren.
Orchester meistern den dritten Satz der Sibelius-Sinfonie
Das Beste zum Schluss? In jedem Fall ist der dritte Satz der Sibelius-Sinfonie immer ein besonderer musikalischer Exploit. In den sechs Akkorden der Schlusskadenz kulminiert die knisternde Stimmung – vor allem auch durch die kaum auszuhaltende Spannung während der unregelmäßig langen Pausen. Hier gelingt den Musikern der wohltuende Spagat zwischen allzu freier Ausführung und schnöder Gleichmäßigkeit. Fast spielerisch zeigt sich zuvor das Zusammenspiel von Streichern, Holzbläsern und Hörnern in der elegischen Melodie des Schwanenthemas, das in Es-moll zurückführt und zusammen mit dem Ostinato-Motiv der Blechbläser dem Höhepunkt entgegenstrebt. Man sieht die Szene förmlich vor sich: „Heute sah ich 16 Schwäne. Einer der größten Augenblicke meines Lebens“, soll Sibelius selbst gesagt haben.
Das Jugend-Sinfonieorchester des Schweizer Kantons Aargau führt zweimal jährlich motivierte und begabte Jugendliche und junge Erwachsene im Alter von 16 bis 26 Jahren in einer Probewoche zusammen und geht anschließend auf Konzerttournee. Hatte man im vergangenen Sommer sein Publikum ins „Traumland“entführt, so also jetzt die musikalische Suche nach der unergründlichen Dunkelheit. Dass diese auch beglückend sein kann, beweisen die Musikerinnen und Musiker in ihrer luftigen Interpretation der Sommernachtstraum-Ouvertüre.
Die begeisterten Zuschauer hoffen auf das nächste Jahr
Geschmeidig, fordernd, aber unaufgeregt zeigt sich das Dirigat von Hugo Bollschweiler auch in den Stücken von Wladyslaw Szpilman, die von der schier unerträglichen Leichtigkeit des Seins geprägt sind und in ihrer stilistischen Ausführung immer ein wenig an Gershwin erinnern lassen. In „Introduction to a Film“etwa baut das Orchester die Spannung behutsam auf, zieht in fließenden Creszendi große Spannungsbögen – und bleibt doch auch im Forte unaufdringlich.
Nur kurze Stille im Kirchenschiff nach dem oben erwähnten fulminanten Schlusspunkt. Dann reicher Applaus und stehende Ovationen. Und nach einer Zugabe die Hoffnung, die jungen Musiker im nächsten Jahr in Lindau wiederzusehen.