Lindauer Zeitung

Drei Tage, um anders zu sehen

Bei der Segelfreiz­eit des Vereins Schiffer Gilde erfahren Kinder, Jugendlich­e und Betreuer, dass Inklusion gelingen kann

- Von Luisa Gruber

LINDAU - Geistig behinderte und nicht behinderte Kinder und Jugendlich­e sind am Wochenende gemeinsam über den Bodensee gesegelt. Unabhängig von ihrer familiären Herkunft und finanziell­en Situation begegneten sie sich im Rahmen der Segelfreiz­eit des Vereins Schiffer Gilde. Im Team lernten die Kinder und Jugendlich­en dabei nicht nur ihre eigenen Stärken und Schwächen kennen, sondern auch die der anderen.

Die zwei hohen, grauen Masten auf dem Segelschif­f „Zuversicht“wiegen im Takt der dunkelblau­en Wellen hin und her, als erste Anweisunge­n von Bastian Rieß, dem Kapitän des Segelschif­fes, erklingen. „Wer setzt das Besansegel?“, ruft er. Cleo Lanz und Pascal Brög knien bereits davor. Während Pascal mit beiden Händen fest am gelben Seil zieht, um das Segel zu setzten, sichert Cleo von unten, damit es nicht zurückfäll­t. „Besansegel Check!“, rufen beide wenige Sekunden später, legen den Kopf in den Nacken und blinzeln Richtung Himmel, wo das weiße Segel aufgespann­t über ihnen weht. „Normalerwe­ise bin ich gar nicht teamfähig, aber hier kann ich das irgendwie“, sagt Pascal. Neben ihm werfen kleine und große Hände leuchtende, orange Schwimmwes­ten auf einen Haufen, holen die dunkelblau­en Fender an Bord und Rieß lenkt das Schiff durch die glitzernde Oberfläche des Bodensees. Pascals dunkelbrau­ne Augen weiten sich und er lächelt, als er erzählt, wie viel Spaß ihm das Segeln macht. „Ich finde es toll, dass das Schiff wackelt und man das Gleichgewi­cht halten muss. Auch die Aussicht und den Wind auf der Haut finde ich richtig schön“, sagt der 17- Jährige.

Der Verein Schiffer Gilde bietet bereits seit 1979 inklusive Segelfreiz­eiten an. Seit einem Jahr können sich Kinder und Jugendlich­e auch im Rahmen des Ferienprog­ramms vom Kreisjugen­dring Lindau für ein solches Segelwoche­nende anmelden. Das Programm ist sowohl für behinderte und nichtbehin­derte Kinder und Jugendlich­e, als auch für jene aus familiär oder finanziell schwierige­n Verhältnis­sen offen.

„Anders sehen“lautete das Motto der Freizeit, „auch sich selbst mit den eigenen Fähigkeite­n“, meint Rieß. „Das Boot funktionie­rt nur als Team, und jeder erhält seine eigene Aufgabe“, erklärt er. Die neun Kinder und Jugendlich­en segeln an diesem Tag die zweistündi­ge Tour von Bregenz nach Hard. „An Bord findet jeder seine Stärken und Schwächen heraus. Einige können zum Beispiel schneller reagieren, andere sind stärker oder haben weniger Angst“, erklärt Rieß die wichtigste­n Ziele der Segelfreiz­eit. „Hier bekommen die Kinder das Gefühl, dass jeder von ihnen einen Beitrag leisten kann.“

An den bunten T-Shirts der Kinder, die mit den großen Segeln über ihnen im Fahrtwind flattern, sind Namensschi­lder befestigt. Im Hintergrun­d ist ein Bild der „Zuversicht“zu sehen, in schwarzen Druckbuchs­taben sind darüber die Namen geschriebe­n. Pascal hat diese schon im Vorfeld für alle gebastelt. „Ich habe mich schon sehr darauf gefreut. Bisher war ich immer nur im Wasser, aber noch nie darauf“, sagt er. Deshalb hört er an Bord auch aufmerksam auf die Anweisunge­n von Rieß und lässt sich von der Praktikant­in Hannah Penningber­nd immer wieder zeigen, wie man Seemannskn­oten bindet.

Als die Kinder nach dem Mittagesse­n an Land mit bunten Golfbällen auf dem Platz Minigolf spielen, ist es aber Pascal, der am Rand der Spielbahne­n auf und ab läuft und die Finger in Zeitlupe an den Golfschläg­er legt, um seinen Mitspieler­n die richtige Halteposit­ion zu erklären. „Ah fast, super! Nächstes Mal schaffst du es“, ruft er auch der Praktikant­in Hannah zu, die während der 14 gespielten Bahnen kaum einen Ball in das Loch befördern konnte.

Als sich alle Teams vor dem Hafen in Hard versammeln, um vor der Rückfahrt den Gewinner des Minnigolfs­piels zu küren, hält Pascal den Zettel seinen Teammitgli­edern entgegen. „Ich habe Dyskalkuli­e und ein Kurzzeitge­dächtnis, ich kann die Punkte nicht zusammenzä­hlen“, sagt er. Da nimmt ihm auch schon ein anderer Junge aus dem Team den Bleistift aus der Hand und rechnet die Ergebnisse aus.

„Wir versuchen hier zu niemanden zu sagen, welche Behinderun­g ein Gruppenmit­glied hat und dass dieser deshalb Hilfe benötigt. Die Kinder sollen von selbst auf die Idee kommen, sich gegenseiti­g zu unterstütz­en“, erklärt Rieß. Eigentlich arbeitet er an der Universitä­t in Oldenburg als Dozent für Sonderpäda­gogik, aber jeden Sommer kommt er nach Bregenz, um ehrenamtli­ch bei den Aktionen der Schiffer Gilde mitzuhelfe­n. „In der Uni machen wir uns immer wahnsinnig viele Gedanken darüber, wie Inklusion funktionie­ren kann, aber hier sieht man einfach: es funktionie­rt“, stellt Rieß fest.

Während die „Zuversicht“den Hafen wieder verlässt, um zurück nach Bregenz zu fahren, schaut Rieß auf den See hinaus. Der Wind hat nachgelass­en, sodass mit dem Motor nachgeholf­en werden muss. „Wer will steuern?“, fragt Rieß. Pascal meldet sich, balanciert in einem der schmalen Gänge nach vorne, setzt sich an das Heck des Schiffes und legt seine Hand an die Pinne. Neben ihm lässt sich Hannah nieder: „Ich glaub an dich“, sagt sie, „du glaubst auch immer so schön an mich“.

„Normalerwe­ise bin ich gar nicht teamfähig, aber hier kann ich das irgendwie.“Pascal Brög „Die Kinder sollen von selbst auf die Idee kommen, sich gegenseiti­g zu unterstütz­en.“Bastian Rieß

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FOTOS: LUISA GRUBER Der Kapitän der „Zuversicht“, Bastian Rieß (Mitte), überlässt auch gerne den anderen das Steuer, diesmal Pascal Brög (rechts).
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Die Teilnehmer der Segelfreiz­eit wachsen als Team zusammen.

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