Vor einem halben Jahrtausend war es schon mal so heiß
Umwelthistoriker suchen in der Natur und in Archiven nach Hinweisen auf das Klima – auch in Lindau
LINDAU - Das Jahr 2018 wird als eines der heißesten und trockensten Jahre in die Klimageschichte Mitteleuropas eingehen. Kein Zeitgenosse hat bislang dergleichen erlebt. Es ist fast ein halbes Jahrtausend her, dass in unseren Breiten ein ähnliches, lange anhaltendes subtropisches Wetter herrschte. Das war im Jahr 1540, wie Klimaforscher ermittelt haben, die professionell „Wetternachhersage“betreiben (so der Titel eines Buches des Schweizer Umwelthistorikers Christian Pfister).
Wenn sie das Klima vor so langer Zeit erforschen wollen, können Historiker sich nicht auf die Ergebnisse großflächiger, systematischer instrumenteller Messungen stützen, denn diese werden erst seit etwa 1850 durchgeführt. Stattdessen müssen sie auf indirekt gewonnene Daten, sogenannte Proxydaten, zurückgreifen, die aus den Archiven der Natur (zum Beispiel Baumringe, fossiles Holz, fossile Pollen und Sporen, Torfbildungen, Sedimente, Gletscherablagerungen) und aus den Archiven der Gesellschaft gewonnen werden.
In den Archiven finden sich vielfach schriftliche und bildliche Quellen, die auf Wetter und Witterung eingehen. Das gilt auch für das Stadtarchiv Lindau, namentlich für die hier verwahrten Stadtchroniken. In ihnen ist viel vom Wetter die Rede, oft im Zusammenhang mit dem besonders vom Wetter abhängigen Weinbau, denn er war im alten Lindau von großer wirtschaftlicher Bedeutung.
Was berichten diese Chroniken über das Wetter im Jahr 1540? Werfen wir einen Blick in drei Chroniken, die um 1600 zusammengetragen wurden. Bei ihren Verfassern handelt es sich um den Stadtschreiber Johannes Bertlin (1615 pensioniert), um den Lehrer Jakob Lins (✝ 1621) und um den Kaufmann Ulrich Neukomm und seinen Bruder Alexius (✝ 1627), einem evangelischen Prediger. Alle drei Chroniken verwenden noch den Julianischen Kalender, nicht den heute üblichen Gregorianischen. Bei dessen Einführung wurden zehn Tage übersprungen. Dementsprechend muss man den im Folgenden angegebenen Daten zehn Tage hinzuzählen, wollen wir sie mit heutigen vergleichen.
Bereits im März, also noch einen Monat früher als 2018, habe es begonnen, warm zu werden. Vom Frühjahr bis in den Herbst, vielleicht sogar bis Weihnachten, habe es nicht mehr als fünf Mal geregnet. „Daher allenthalben großer Mangel an Wasser war“und im heißen Sommer (wegen der starken Trockenheit) „viel Berg und Wälder angangen“, soll heißen, in Brand gerieten. Bäche und Brunnen versiegten, sodass die Wassermühlen ihren Betrieb einstellen mussten. Die Energieversorgung wurde also beeinträchtigt, auch hier lassen sich durchaus Parallelen zu heute erkennen. Die Lindauer mussten von Wasser- auf Muskelkraft umstellen: Sie richteten in der Stadt Roßmühlen ein, um die Versorgung mit dem Grundnahrungsmittel Mehl sicherzustellen. Die Trockenheit war auch am Pegel des Bodensees abzulesen. „Und war der See so klein (soll heißen, niedrig), dass man mit trockenen Füßen um die Stadt gehen konnte.“
Die Trockenheit hatte natürlich massive Auswirkungen auf die Trinkwasserversorgung. Es gab Gegenden, da musste man bis zu drei Meilen (etwa 25 Kilometer) fahren, um an Trinkwasser zu gelangen. „Aber unser Brunnenstuben hat nie gemangelt“, vermeldet Bertlin und bezieht sich damit auf die Quellen, die die Lindauer auf dem Festland gefasst hatten und deren Wasser sie mittels hölzerner Rohre in die Stadt leiteten. Die früh einsetzende Wärme beschleunigte das Wachstum des Getreides: Bereits im Mai wurden Gerste, Korn (also Roggen) und Hafer geerntet. Der Ertrag des Korns war ebenso wie der erste Schnitt des Heus mit normalen Jahren vergleichbar, nicht dagegen Menge und Qualität des Hafers. Er war bei der großen Hitze ebenso verbrannt wie der zweite Heuschnitt.
„Die Kriesbeeren wurde auf Herbst noch einmal zeitig, die Äpfel- und Birnbäume blüten wieder.“Jakob Lins (✝ 1621), Lehrer und Chronist
Auch damals wurde früh mit der Weinlese begonnen
Ebenfalls im Mai – und damit deutlich früher als in anderen Jahren – hatten die Trauben geblüht. Die Lese begann am 1. August. An diesem Tag „wimmelte“der Lindauer Bürger Hans Nagel in seinem (Haus-)Garten unweit des Unteren Inseltors (heute im Bereich der Kreuzung Inselgraben/Ludwigstraße). Vor Michaelis (29. September) war der Wein „under die Raiff“, die Lese also abgeschlossen. Es soll ein guter und starker Wein gewesen sein, „an Farb … wie Gold“und von intensivem Duft. Noch 1610 trank man in Lindau und Feldkirch davon. Die Menge ließ ebenfalls nicht zu wünschen übrig, auch wenn sie nicht an diejenige des Vorjahrs heranreichte. 1539 war so viel Wein geerntet worden, dass man ihn kaum unterbringen konnte. Die Fässer galten daher mehr als der Wein. Das wirkte sich noch 1540 aus. Um Lagerkapazitäten zu gewinnen, wurde im Sommer der 1539er Wein zu Billigpreisen abgegeben. Die (wie wir heute sagen würden) Rädlewirtin Barbel Ferberin, so berichtet Lins, ging sogar soweit, den ihren umsonst auszuschenken, „damit sie Fass hatte, den newen zue fassen“.
Anfang Oktober fiel zwar kein Regen, aber Tau, der bislang ebenfalls ausgeblieben war. Er ermöglichte einen dritten, durchaus ansehnlichen Heuschnitt und trug wohl neben den anhaltend hohen Temperaturen auch zu einer zweiten Wein- und Obstblüte bei. „Acht Tag vor Galli (16. Oktober) hat man … Traubenblüt gefunden.“„Die Kriesbeeren (Kirschen) wurde auf Herbst noch einmal zeitig, die Äpfel- und Birnbäume blüten wieder … und „kamen so weit, dass man‘s essen konnte.“Ob sich dieses Phänomen auch 2018 einstellen wird?
Wir rechnen heute damit, dass das Hitzejahr 2018 kein Einzelfall bleiben wird. 1540 blieb dagegen eine Ausnahme. Denn wenige Jahre später, um 1550, setzte eine Kälteperiode ein, die bis 1850 anhielt. Die Jahresdurchschnittstemperatur sank auf ein Niveau, das zwei Grad Celsius unter dem heutigen lag. Die Klimahistoriker bezeichnen diese 300 Jahre daher als „Kleine Eiszeit“. Anders als 1540 scheint uns 2018 eine solche Eiszeit nicht bevorzustehen.