Ein schwieriges Genie
Neue Biografie zu Leonardo da Vinci räumt mit Klischees auf
BONN (KNA) - Leonardo da Vinci gilt als einer der genialsten Universalgelehrten aller Zeiten. Eine neue Biografie – veröffentlicht wenige Monate vor seinem 500. Todestag – porträtiert einen komplizierten und verletzten Menschen. Schon jetzt wirbt die Tourismusbranche mit seinem 500. Todestag. Toskana, Florenz und die Loire-Schlösser haben Reisen zu Leonardo da Vincis (1452-1519) Lebensstationen im Programm. Es gibt Ausstellungen und Gedenkmünzen. Auch Wissenschaftseinrichtungen bereiten sich auf ein LeonardoJahr vor und ehren damit das Allround-Genie der Renaissance, das am 2. Mai 1519 im französischen Schloss Clos an der Loire starb.
Ein absehbarer Hype. Denn alles, was Leonardo angefasst und überliefert hat, scheint zu Gold zu werden. 2017 wurde das ihm zugeschriebene Gemälde „Salvator Mundi“für mehr als 450 Millionen Dollar von der Regierung von Abu Dhabi ersteigert. 1994 ersteigerte Bill Gates den Codex Leicester, eine wissenschaftliche Abhandlung Leonardos, für 30,8 Millionen US-Dollar und machte die Blättersammlung zum teuersten Buch der Welt.
Gegen die Zeit gelebt
Universalgenie, Wunderkind, Inbegriff des Renaissance-Menschen: Der Maler der Mona Lisa zieht alle Superlative auf sich. Doch die gerade von dem im schweizerischen Fribourg lehrenden Historiker Volker Reinhardt vorgelegte Biografie „Leonardo Da Vinci. Das Auge der Welt“zeichnet ein viel differenzierteres Bild des am 15. April 1452 nahe Florenz geborenen Künstlers.
Er sei ein Künstler gewesen, der „vor allem gegen seine Zeit lebte“, schreibt der Historiker, der einer der führenden Renaissance-Experten ist. Atheist, Homosexueller, Außenseiter: Leonardo, der visionäre Konstrukteur von Flugapparaten und Zeichner des ideal proportionierten Menschen, war danach ein Mensch, der über die wortverliebten Humanisten und den Glauben der Alchemisten spottete und wenig von der Unsterblichkeit der Seele hielt.
Der Maler des weltberühmten „Abendmahls“im Dominikanerkloster Santa Maria delle Grazie in Mailand ein Atheist? Das Wandgemälde, das Leonardos Durchbruch als Maler bedeutete, zeige ein allgemeinmenschliches Drama und verabschiede sich von der üblichen religiösen Tradition, schreibt Reinhardt. Und verweist auch auf das Gemälde der „heiligen Anna selbdritt“. In der scheinbar so friedlichen Szenerie bricht das Jesuskind als ungebärdiger Knabe einem Lämmchen lustvoll das Genick. Da bleibt wenig Göttliches.
Die Distanz zu Welt und Gesellschaft hat sich laut Biografie schon in der Jugend des Genies abgezeichnet. Geboren als uneheliches Kind eines viermal verheirateten Notars, muss Leonardo früh ein Außenseiter gewesen sein. Sein Leben lang litt er wegen fehlender höherer Bildung unter Minderwertigkeitskomplexen. Seine Homosexualität – er hatte ein Verhältnis zu einem seiner Schüler – trug ihm ebenfalls Spott, Empörung und Befremden ein.
Ein Schlüssel für das Leben Leonardos. Seine Malerei, seine Zeichnungen und Schriften seien „wütende Gegenentwürfe und radikale Umwertungen“zu den erlittenen Demütigungen gewesen, schreibt Reinhardt. Der Künstler als enfant terrible: Leonardo habe Fristen nicht eingehalten, Werke nicht vollendet, Aufträge willkürlich verändert und die Konstruktion von Wunderwaffen versprochen, die er nie baute. Monate lang rührte Leonardo sein Malerwerkzeug nicht an – da lag der Vorwurf nahe, dass er sein Ausnahmetalent regelrecht vergeude.
Umso mehr zeichnete er: Muscheln, Fische, Pflanzen und die Wirbel eines Bachlaufs – aber auch menschliche Körperteile, Fluggeräte, Panzer oder Katapulte. Für Leonardo war die Welt kein Werk Gottes. Zeichnen war für ihn Philosophie und Erkenntnis der Natur. „Für Leonardo galt nur, was das Auge sieht“, schreibt Reinhardt. „Seine Mission war es, sehend, zeichnend und malend zum Auge der Welt zu werden.“
Düsteres Menschenbild
Rätselhaft, dass viele der brillant gezeichneten technischen Apparate zwar einen genialen Konstrukteur vermuten lassen, aber wohl nicht praxistauglich waren. Manche der Zeichnungen zeigen bei genauerem Hinsehen ein anderes, finsteres Gesicht: Eine gigantische Kanone drückt Menschen zu Ameisen herab, eine riesige Armbrust versklavt ihren Schützen. Und neben wunderschönen menschlichen Körpern hat Leonardo auch verwirrte und verunstaltete Gesichter und Gestalten gezeichnet. Der Mensch ist für ihn nicht die Krone der Schöpfung, sondern zu Grausamkeiten fähig, die ihn auf die niedrigste Stufe der Natur stellen.