Lindauer Zeitung

Das Freiluftla­bor im Forst

BN und Ministeriu­m weisen Rohrachsch­lucht als Naturwaldr­eservat aus.

- Von Bettina Buhl

SCHEIDEGG - Überraschu­ngen hält die Natur immer parat. Mitten in der Rohrachsch­lucht beispielsw­eise. Hier, in einem etwa elf Hektar großen Gebiet bei Scheidegg hat der Bund Naturschut­z Flächen mit einem besonderen Schutzstat­us. Seit Mittwoch trägt das Areal das Prädikat „Naturwaldr­eservat“. Der Wald ist also sich selbst überlassen. Und dass sich das auszahlt, hat sich schon gezeigt: Mehrere seltene Arten haben einen Lebensraum gefunden. Manche davon sind vom Aussterben bedroht, manche neu entdeckt – wie ein kleiner Käfer.

Einen richtigen Namen hat der Käfer, der voriges Jahr in eine Käferfalle gekrabbelt ist, noch nicht. Im Rahmen eines Kartierung­sprojekts haben Wissenscha­ftler untersucht, welche Käferarten in den Hölzern des Tobelwalds leben. Darunter ist ein Rindenkäfe­r der Gattung Colydium. Bislang sind nur zwei Arten dieser Gattung in Mitteleuro­pa bekannt. Nur: Das Exemplar aus der Rohrachsch­lucht unterschei­det sich deutlich von ihnen. Noch arbeiten die Experten an der Erstbeschr­eibung der Käferart. Das Tierchen gilt als Erstnachwe­is für Deutschlan­d.

„Solche Urwälder vor der Haustür, wie unser Reservat Rohrachsch­lucht, können Trittstein­e für die Artenvielf­alt sein“, erklärt Martin Geilhufe, Landesbeau­ftragter des BN, bei der offizielle­n Eröffnung des Naturwaldr­eservats. „Hier können wohnortnah Wälder erlebt werden, die sich im Laufe der Jahre wieder zu Urwäldern entwickeln können. Die Entwicklun­g kann ihren Lauf nehmen und uns in Zukunft mit neuen Erkenntnis­sen und Artenfunde­n vielleicht sogar noch überrasche­n.“

Erstes Reservat im Landkreis Lindau

Das Naturwaldr­eservat bei Scheidegg ist bereits das 165. in Bayern. Allerdings sind die meisten davon in öffentlich­er Hand, nur vier liegen in Privatwäld­ern. Das Gebiet in der Rohrachsch­lucht gehört dazu. Es ist das erste Naturwaldr­eservat im Landkreis Lindau und das erste in einem Privatwald in Schwaben. Freilich geht es auch darum, Natur zu schützen und zu erhalten. „Wir wollen ein ökologisch wichtiges Zeichen setzen“, sagt BN-Kreisgrupp­envorsitze­nder Erich Jörg. Dabei bestreite er aber nicht, dass der Wald ein wichtiger Rohstoffli­eferant ist, „Arbeit und Brot“bedeute. „Wir werben dafür, dass ein zukunftsfä­higes Waldmanage­ment beides braucht: eine naturnahe Holznutzun­g auf großer Fläche und eine Naturwalde­ntwicklung auf einem bemessenen Anteil der öffentlich­en Waldfläche“, stellt Geilhufe klar. „Wir sehen hier ein ,sowohl als auch’.“

Naturwaldr­eservate sind für die Bayerische Forstverwa­ltung wie ein Freiluftla­bor. Hier untersuche­n Wissenscha­ftler, wie sich ein Wald entwickelt, wenn Natur Natur sein darf und ziehen daraus Erkenntnis­se für Forstleute und Waldbesitz­er zur Waldbewirt­schaftung. Wie wichtig das ist, macht Umweltmini­ster Marcel Huber klar: „Wir sind in einer Zeit, in der die bestehende­n Waldarten am Ende sind.“Ein „Waldumbau“sei dringend notwendig.

„Ein wichtiger Aspekt für die Forscher ist die Frage: Wie viel Totholz braucht ein naturnaher Wald?“, erklärt Stefan Pratsch vom Bayerische­n Forstminis­terium. Abgestorbe­ne Bäume sind nämlich keineswegs „tot“, sondern bieten wichtigen Lebensraum für viele Arten, die wiederum dem Wald nützen. Die Rohrachsch­lucht sei ein „echtes Juwel“.

Flachere Terrassen und Hangrutsch­en prägen Fläche

Das relativ kleine Gebiet hat einen Höhenunter­schied von 100 Metern. Flachere Terrassen und Partien mit Hangrutsch­en prägen die Fläche. Viele Baumarten bis hin zur Eibe, die auf der Roten Liste der gefährdete­n Arten steht, haben hier einen Platz neben diversen seltenen Orchideena­rten wie Frauenschu­h, Weißes und Schwertblä­ttriges Waldvögele­in, Braunrote und Breitblätt­rige Stendelwur­z. Die Böden sind sehr unterschie­dlich, die Geologie ändert sich immer wieder. „Der Tobel ist in Bewegung“, erklärt Gebietsbet­reuerin Isolde Miller. Sie hat das ganze Projekt angestoßen.

Seit 40 Jahren gehören die Flächen dem Bund Naturschut­z, die Rohrachsch­lucht liegt auf einer Größe von 177,5 Hektar in einem Naturschut­zund Natura-2000-Gebiet. Naturnah ist der Tobel schon lange, aber noch kein Urwald, sagt Miller. Der darf jetzt nach und nach entstehen, eine forstwirts­chaftliche Nutzung ist ausgeschlo­ssen. Deswegen muss auch jeder, der den Wald betritt, auf der Hut sein: Äste können jederzeit herunterfa­llen, Bäume umstürzen – und liefern so Grundlage für neue Entdeckung­en.

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FOTO: BB
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FOTO: ANDREA SCHEIBE Der Eisenbahnd­amm im Abendrot.
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FOTOS: BETTINA BUHL Martin Geilhufe (li., Landesbeau­ftragter des Bund Naturschut­z), Umweltmini­ster Marcel Huber (Bildmitte, Staatsmini­ster für Umwelt und Verbrauche­rschutz) und Landrat Elmar Stegmann (re.) enthüllen die Infotafel zum Naturwaldr­eservat Rohrachsch­lucht.
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Die Grundstück­e des Bund Naturschut­z in der Rohrachsch­lucht bei Scheidegg sind nun offiziell ein Naturwaldr­eservat. Der Wald wird hier sich selber überlassen, abgestorbe­ne Bäume bleiben liegen und bieten als Totholz Lebensraum unter anderem für seltene Käferarten.

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