Vernetzt, ganz ohne zu verzweifeln
Das 2. Bodensee Business Forum offenbart sich als nahbarer Gegenentwurf zu den üblichen Debattierclubs
FRIEDRICHSHAFEN - Spätestens bei der Eröffnung des Büffets sehen die 450 Besucher des 2. Bodensee Business Forums (BBF) dann doch, dass der Kongress im Graf-ZeppelinHaus etwas zutiefst Schwäbisches ist – denn es gibt Spätzle. Der GrünenPolitiker Cem Özdemir lädt sich zwar was anderes auf den Teller, über dessen Ränder man nicht erst seit den Zeiten der Digitalisierung hinausblicken sollte. Aber auch er ist als Deutscher mit türkischen Vorfahren Ausdruck einer Vielfältigkeit, die nicht nur das BBF selbst ausmacht an diesem Herbsttag im Gewand des Hochsommers, sondern auch für den Erfolg einer Wirtschafts- und Kulturregion steht, an der selbst hochrangige Politiker, Unternehmer und Publizisten nicht vorbeikommen. Weshalb sie vermutlich auch fast alle da sind – eindrücklich nachzulesen im Programmheft, das sich mit 35 Sprechern als Who’s who eines Kongresses präsentiert, der auch locker in Berlin hätte stattfinden können, in Stuttgart sowieso. Dass er genau das aber eben nicht tut, macht das Bodensee Business Forum besonders.
Das BBF steht unter dem Leitmotiv „Vernetzen statt Verzweifeln“. Den besten Beweis, dass dieser Slogan nicht nur ein Schlagwort ist, liefert die Veranstaltung selbst. Denn wer ein Aufgebot mit Prominenten wie EU-Kommissar Günther Oettinger, Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn, dem ehemaligen österreichischen Bundeskanzler Christian Kern sowie dem Ex-Greenpeace-Chef Gerd Leipold und Bundesentwicklungsminister Gerd Müller (CSU) an nur einem einzigen Tag zusammenzubringt, kann im Vernetzen nicht ganz schlecht sein. Im Wesentlichen geht dieses Kunststück auf die Person Hendrik Groth zurück, den Chefredakteur der „Schwäbischen Zeitung“, der aus dem Händeschütteln gar nicht mehr herauskommt. Groth führt ein Medium, das sich genau in den thematischen Spannungsfeldern bewegt, denen beim Bodensee Business Forum vertiefte Aufmerksamkeit zukommt: Digitalisierung und die Entwicklung der Demokratie in einem Umfeld, in dem politische Akteure aufgetaucht sind, die das vormals kaum umstrittene System der Demokratie infrae stellen. Und somit auch alle Freiheitsrechte, die damit verbunden sind – Pressefreiheit inklusive, ohne die Zeitung als unabhängiges Konstrukt nicht existieren kann, wie Kurt Sabathil, der Geschäftsführer von Schwäbisch Media, schon bei seiner Begrüßung klarmacht.
Noah und Jonathan, zwei 16-Jährige vom Ravensburger Welfen-Gymnasium, sind einigermaßen beeindruckt: „Es ist viel interessanter, als wir erwartet haben.“Die Schüler gehören zu einer achtköpfigen Gruppe, und zunächst wussten sie nicht so recht, ob es nun Fluch oder Segen ist, zum BBF fahren zu dürfen. Jetzt stellt Noah fest: „Am meisten hat mich der Herr Oettinger überrascht.“Bisher habe sich ein anderes, nicht immer schmeichelhaftes Bild bei den Jungs in seiner Altersgruppe verfestigt. Aber nachdem sie Oettinger leidenschaftlich auf dem Podium für Europa und seine Ideale haben eintreten sehen, ist ihr Respekt gewachsen. Oder wie Jonathan sagt: „Seine Haltung hat mich beeindruckt.“
Haltung ist überhaupt ein gutes Stichwort, das sich durch die vielen Podiumsdiskussionen und Workshops zieht. Denn bei einer Veranstaltung mit rund 450 Teilnehmern entsteht vielleicht kein Rahmen der Intimität, aber doch eine Nähe, bei der es schwieriger wird, sich als Politiker oder Wirtschaftsvertreter hinter einer einstudierten Maske zu verstecken. Und das merken die Zuhörer, wie viele von ihnen bestätigen. Zumal der äußere Rahmen im GrafZeppelin-Haus keine Barrieren kennt, sodass Besucher ohne Schwierigkeiten auch einen Lars Klingbeil, den SPD-Generalsekretär, einfach so ansprechen können. Oder den Botschafter von Kasachstan, Bolat Nussupov, der sagt: „Unser Land ist wirtschaftlich sehr eng mit Baden-Württemberg verbunden. Deutschland ist gerade bei der Digitalisierung unser Partner. Deshalb bin ich heute hier.“Zwar sei die Botschaft von Kasachstan in Berlin angesiedelt, aber auch in Stuttgart wäre sie sicher nicht verkehrt, scherzt der Diplomat.
Nach dem Mittagessen steht Brauereichef Gottfried Härle nur ein paar Meter von Nussupov entfernt und zeigt sich überrascht, dass der Tag so interessant, die Vorträge so gehaltvoll geworden seien. Einziges Manko aus seiner Sicht: „Das Programm ist sehr dicht, man kann nicht alles sehen und hören, was man eigentlich möchte.“Und darum verpasst Härle zum Beispiel auch den eindrucksvollen Moment, als der Journalist Richard Gutjahr, der Opfer von hetzerischen Verschwörungstheorien geworden ist, mit höchster Intensität zeigt, wie dünn der digitale Faden zwischen den sozialen Netzen ist, an dem wir alle auf die eine oder andere Weise hängen. Und was für grauenhafte Dinge passieren können, wenn dieser Faden reißt und ein Mensch – wie im konkreten Fall Gutjahr – zum Verfolgten wird in dieser digitalen Welt, die von der analogen nicht mehr zu trennen ist, weil beide gleichermaßen zu unserer Wirklichkeit verschmolzen sind. „Das hat mich schwer beeindruckt“, sagt auch Hilka Schmitz, die aus London zum BBF angereist ist.
Auf Tuchfühlung
In den Workshops, die im kleineren Rahmen das Versprechen der Tuchfühlung mit nahbaren Rednern durch den aktiven Austausch mit den Zuhörern noch intensiver einlösen, versuchen sich zum Beispiel der ITUnternehmer Markus Winter und der CDU-Politiker im Europaparlament, Norbert Lins, auf eine Zukunftsformel zur Frage zu verständigen: „Welche Auswirkungen hat Digitalisierung auf Politik?“Ein paar Türen weiter entwirft die junge FDPPolitikern Ria Schröder im Gespräch mit dem ehemaligen GreenpeaceChef und Umweltschutzveteranen Gerd Leipold eine Vorstellung von der Welt, wie sie 2040 aussehen könnte. Andere Podien befassen sich mit den Folgen von Abschiebungen gut integrierter Flüchtlinge für den Mittelstand. Wirtschaftsvertreter wie der Infrastrukturvorsitzende der Deutschen Bahn, Ronald Pofalla, oder Mario Ohoven, der Präsident des Bundesverbandes mittelständischer Wirtschaft, müssen in Diskussionen Farbe bekennen.
Doch bei all der Ernsthaftigkeit, die allein die drängenden Zukunftsfragen verlangen, ist das zum See hin geöffnete Graf-Zeppelin-Haus an diesem sonnenverwöhnten Tag auch ein Ort, um zwischen den Begegnungen kurz darüber nachzudenken, dass Bodenseeregion und Oberschwaben oder die Vier-Länder-Region insgesamt eben noch mehr sind als Wirtschaftsräume, die sich um der Zukunft willen gut vernetzen und die digitale Wette eingehen müssen. Der luxemburgische Außenminister Jean Asselborn zum Beispiel hat an diesem Tag noch Augen für das andere, wenn er sich als Radsportbegeisterter offenbart: „Ich habe den Bodenseeradweg schon viermal gemacht – und zwar ohne elektrische Unterstützung!“
Ein „Sittengemälde“
Kurt Fessler, der aus Vorarlberg angereist ist, findet: „Das hier ist wie ein Sittengemälde unserer Zeit.“Mit Leuten, die nicht jammerten, sondern anzupacken bereit seien – über Grenzen von Ländern, Parteien und Generationen hinweg. Und Wolfgang Oligmüller von der Volksbank Allgäu-Oberschwaben betont, dass der heutige Tag ihn habe spüren lassen, dass jenseits des negativen Grundrauschens der Schwarzmaler genug Gründe zum Mutfassen vorhanden seien. „Die vielen Eindrücke hier weiten meinen Blick.“
Was am Ende des Tages für Bilder übrig bleiben werden, welche Wirkungen von dem Versuch, 450 Menschen durchs Vernetzen vom Verzweifeln abzuhalten, ausgehen – diese Frage können die beiden Gymnasiasten Noah und Jonathan spontan auch nicht beantworten. Vielleicht ist es das Bild von Jean Asselborn ohne Schlips und Kragen, der auf einer Bank am Seeufer mit Christian Kern sitzt und vielleicht mal nicht über Politik, sondern über das Glitzern des Wassers redet. Oder der Eindruck fiebriger Energie, die die Menschen zu durchfließen scheint, und der Glaube, dass Zukunft nichts ist, dem man ausgeliefert sein muss. Sondern etwas, das man zusammen mit den richtigen Leuten gestalten kann. Heute für morgen. Wenn Jonathan und Noah keine Schüler mehr sein werden und dann darüber urteilen, ob die Gemeinschaft aus Politik, Wirtschaft, Verwaltung und Medien den Mut gehabt hatte, sich den nicht eben kleinen Herausforderungen zu stellen. Und außer zu reden auch gehandelt haben.
„Am meisten hat mich der Herr Oettinger überrascht.“Noah, 16-jähriger Schüler des Ravensburger Welfengymnasiums