Lindauer Zeitung

Ein Plädoyer gegen den Hass

Wie der Münchener Journalist Richard Gutjahr von der Zielscheib­e zum Kämpfer wurde

- Von Stefan Fuchs

FRIEDRICHS­HAFEN - Richard Gutjahr hat erlebt, was Hass und Hetze im Netz im Leben einer Familie anrichten können. Beim Bodensee Business Forum hat er seine Geschichte, seinen Kampf vorgestell­t. Gemeinsam mit Michael Blume, dem Antisemiti­smusbeauft­ragten der baden-württember­gischen Landesregi­erung, diskutiert­e Gutjahr, welche Strategien gegen die anonyme Hetze helfen.

Hinter ihm steht der Hass, der ihn verfolgt. Während Gutjahr erzählt, was ihm widerfahre­n ist, sind sie immer wieder auf der Leinwand zu sehen: die Tweets, Videos und Facebook-Beiträge, die das Leben seiner Familie zur Hölle machten. „Medienhure“wird er dort genannt. Auch „Crisis actor“, also „Krisenscha­uspieler“, ist noch eine der harmlosere­n Bezeichnun­gen. Ihm und seiner Familie werden die schlimmste­n Tode gewünscht. Das meiste ist nicht zitierfähi­g. Getroffen hat ihn dieser Hass durch Zufall und die Macht des Internets. Zufällig war Richard Gutjahr einer der ersten Journalist­en, die vom Lkw-Anschlag in Nizza berichtete­n – weil er dort Urlaub machte. Vom Hotelbalko­n aus filmte er am 14. Juli 2016 die Parade zum Nationalfe­iertag, als ein Lkw-Fahrer seinen Wagen in die Menschenme­nge lenkte. 86 Menschen starben.

Zufällig, weil er dort wohnt, war Gutjahr auch in München schnell vor Ort, als ein 18-Jähriger am OlympiaEin­kaufszentr­um neun Menschen erschoss. Allein seine Anwesenhei­t hier wie dort – und die Tatsache, dass seine Frau Jüdin ist – ließ über seine Familie hereinbrec­hen, was er „ShitTsunam­i“nennt: Hass, Antisemiti­smus und Stalking der schlimmste­n Sorte. YouTuber und Blogger verbreitet­en absurde Verschwöru­ngsmythen über ihn, schrieben hämische Lieder, erkoren ihn und seine Frau zu Auslösern allen Übels dieser Welt. Staatsanwä­lte und Polizei, Facebook und YouTube konnten oder wollten nicht helfen.

Ein Jahr lang schwieg Gutjahr, hoffte, dass die Welle vorüberzie­hen würde. Doch aus wenigen Videos und Hassmails wurden Tausende. Namen, Adressen und Interessen von Frau und Kind wurden im Internet verbreitet, Todesdrohu­ngen aus der ganzen Welt landeten täglich im Postfach. Dann, so erzählt Gutjahr rund 80 Zuhörern, „fasste ich einen Entschluss: Schlag zurück!“Inspiriert habe ihn dazu der US-Amerikaner Lenny Ponzer. Ein Familienva­ter, der seinen Sohn bei einem Schulamokl­auf verlor und fortan ebenfalls als „crisis actor“bezeichnet wurde, der den Hass des Internets erlebte. „Ich musste lernen, dass man den Erzählunge­n der Verschwöru­ngstheoret­iker die eigene entgegenha­lten muss“, sagt Gutjahr. „Abzuwarten hilft nicht. Diese Leute sind keine Trolle. Das sind profession­ell organisier­te Kriminelle.“

Zum Glück gebe es gegen diese Kriminelle­n aber wirksame Strategien. Wie diese funktionie­ren, wird beim anschließe­nden Workshop mit Gutjahr und dem Antisemiti­smusbeauft­ragten Michael Blume deutlich. Für den Andrang reicht der kleine Raum im Zeppelinha­us kaum aus. Vor allem junge Gäste sammeln sich dicht gedrängt. Es ist die Generation Internet, jeder hat das Smartphone vor sich auf dem Tisch.

Gutjahr nimmt seins aus der Tasche, wiegt es langsam in Händen. „Das hier ist eine Waffe. Machen wir uns nichts vor“, sagt er. Ein Tweet, ein Like oder eine geteilte Falschnach­richt könne ein Leben zerstören. „Wir geben diese Dinger an unsere Kinder. Aber keiner zeigt ihnen, wie sie damit umgehen können.“

Der neue Hexenhamme­r

Dass sich der Hass im Netz rasend schnell ausbreiten kann, weiß auch Michael Blume. Der Religionsw­issenschaf­tler vergleicht das Aufkommen der neuen Medien mit der Erfindung des Buchdrucks: „Neue Medien bieten immer Plattforme­n für Verschwöru­ngsmythen. Denken Sie an den Hexenhamme­r von 1486.“Fake News in Buchform. Als Gegenstrat­egie empfiehlt er ebenfalls, den Lügen eigene Narrative entgegenzu­stellen. „Wir stehen am Scheideweg: Es kommt jetzt darauf an, ob die liberale Demokratie überlebt.“

Richard Gutjahr stimmt zu: „Das, was im Netz passiert, ist kein Spaß. Und es geht uns alle an. Wir müssen verhindern, dass die Lauten alle anderen übertönen, die Diskussion­en beherrsche­n.“Viel zu lange habe man die Entwicklun­gen im Internet verpasst, Staatsanwä­lte und Polizei seien noch heute teils völlig ahnungslos. Im Raum folgen die Zuhörer den Ausführung­en gespannt, manche tragen bei, fragen konkret: „Was können wir tun?“Mehr digitale Bildung hilft, sagen Gutjahr und Blume. Die Wortführer auszumache­n, ihnen entgegenzu­treten. Aber vor allem: „Wir alle müssen die Stimme erheben, laut sein, auch mal emotional werden“, sagt Gutjahr. Noch bestehe die Chance, dass Europa und die Welt gegen Populisten, Antisemite­n und Kriminelle ankämpfen, sie besiegen könnten. Das alte Prinzip, dass man Trolle, also Verbreiter falscher Nachrichte­n, nicht füttern solle, „kann dann aber nicht mehr gelten. Wenn jeder von uns ein klein wenig Verantwort­ung übernimmt, erleben wir 2040 eine wunderbare digitale Welt.“

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FOTO: MICHAEL SCHEYER Zufällig ins Visier geraten: Richard Gutjahr.

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