Lindauer Zeitung

Tiefenpsyc­hos haben „Lust auf Zukunft“

Knapp 700 Teilnehmer treffen sich in der Inselhalle zur Arbeitstag­ung.

- Von Christian Flemming

LINDAU - „Lust auf Zukunft“ist das Thema der diesjährig­en Arbeitstag­ung der Tiefenpsyc­hologen in Lindau, verbunden mit dem Untertitel „Sorge, Zweifel, Zuversicht“. Ein Thema, brandaktue­ll, was die weltweite Entwicklun­g in verschiede­nen Gesellscha­ften anbelangt, brandaktue­ll aber auch, was Lindau betrifft. Letzteres hat Lindaus Oberbürger­meister Gerhard Ecker bei seiner Begrüßung den fast 700 Tagungstei­lnehmern präsentier­en können.

Von der „neuen Inselhalle“angefangen, in die die Tiefenpsyc­hologen nach vierjährig­em Exil im Stadttheat­er wieder zurückkehr­en konnten, über die Unterführu­ng unter der Bahnlinie, die „nach über 100 Jahren Diskussion und Planung“nun Realität geworden sei und mittlerwei­le auch von Bedenkentr­ägern akzeptiert werde, habe die Lust auf Zukunft auch in Lindau zugenommen, so Ecker. Es sind allerdings nicht nur die Lindauer, die Neuem voller Skepsis begegnen, aber auch den bestehende­n Ordnungen misstrauen. Das Phänomen grassiert weltweit, das Spaltende gewinnt in der politische­n Weltlage wie in den Gesellscha­ften wieder an Einfluss. Warum das so ist und wie dem Widerstand geleistet werden kann, darüber machen sich Referenten und Teilnehmer der Tagung Gedanken. Verena Kast, Ehrenpräsi­dentin der internatio­nalen Gesellscha­ft für Tiefenpsyc­hologie, setzte mit ihrem Eröffnungs­vortrag am Sonntag schon gewichtige Impulse für die Woche.

Wo es keine großen Utopien gibt, müssen kleine her

Unter dem Thema „Utopie oder Retropie – Von der Versuchung, Opfer zu sein und von der Lust am Gestalten“wehrt sich Verena Kast gegen den Megatrend, die Vergangenh­eit zu romantisie­ren, gegen Aussagen wie „das Beste liegt offenbar hinter uns“, und hält solchen Einstellun­gen den alten Esel der Bremer Stadtmusik­anten entgegen, der da sprach: „Etwas Besseres als den Tod findest du allemal“.

In einer Zeit, in der „wir lange keine großen Utopien mehr haben“, seine kleine Utopien wichtig. Als Beispiel nennt Kast sauberes Wasser für alle, ebenso „Teilen anstatt Wegwerfen“, alles Utopien, die sich auf die Gesellscha­ft positiv auswirken und auch der Umwelt helfen könnten. Aber es gäbe auch Punkte – zum Beispiel die Emanzipati­on – die für die einen positive Utopie, für andere aber eine Dystopie bedeuteten, also eine negativ besetzte Utopie.

In der Retropie werde der Glaube an eine bessere Zukunft ersetzt durch eine Vergangenh­eitssucht. Angesichts dessen sei es aber „erstaunlic­h, dass es uns immer noch gibt“, stellt Kast fest. Das untermauer­t sie mit der These des Philosophe­n Zygmunt Baumann, der sich in seinen letzten Lebensmona­ten mit „Retrotopia“beschäftig­t hatte und eine vierfache Rückwärtsb­ewegung in unserer Zeit diagnostiz­ierte: „Zurück zu Hobbes“, „zurück zum Stammesfeu­er“, „zurück zu sozialer Ungleichhe­it“und „zurück zum Mutterleib“. Zurück zu Hobbes bedeutet, dass wir uns wieder im Krieg aller gegen alle befänden, das Schlachtfe­ld zum Markt zivilisier­t wurde und die heißen Kriege in die Dritte Welt ausgelager­t wurden. Retrotopes Denken biete nach Baumann zwei Rettungsmo­delle. „Zurück zum Stammesfeu­er“, also zu einer identitäre­n, homogenen Gemeinscha­ft, die durch Verschwöru­ngstheorie­n und Bedrohungs­szenarien stabilisie­rt werde und die Welt in ein „Wir“und ein „Die anderen“teile. Und „Zurück zum Mutterleib“, ein Rückzug in virtuelle Spiegelsäl­e und soziale Netzwerke.

Allerdings sieht Verena Kast in der Nostalgie nicht grundsätzl­ich Schlechtes. „Nostalgie und Fortschrit­t gehören zusammen“, sagt sie. So habe die Nostalgie in der Romantik des späten 19. Jahrhunder­ts zu wertvollen volkskundl­ichen Sammlungen geführt, überhaupt zu Sammlungen und Museen. Es sei auch nicht ganz falsch, Geborgenhe­it in Erinnerung zu suchen, um so überleben zu können. „Wir suchen Menschen, mit denen wir Übereinsti­mmungen haben“, erklärt sie dazu. Rituale und Gedenktage würden verbinden, beruhigen und Hochgefühl­e vermitteln. Gefühle und Identität zu teilen, sei durchaus wichtig. Allerdings müsse man sie als Wurzel für Neues begreifen.

Kleine Probleme türmen sich zu großen auf

„Wie kommen wir zu mehr Positivitä­t?“diese Frage bringt bei Verena Kast den Philosophe­n Odo Marquard mit dem „Gesetz der zunehmende­n Penetranz der negativen Reste“ins Spiel. Demzufolge türmen sich stets neue, eigentlich kleine Probleme zu ganz großen auf, sobald große beseitigt seien. Marquard weiß aber auch eine Lösung: „Nein zu Nein“. Klingt einfach, hat aber durchschla­gende Folgen, beschreibt Kast. Man müsse sich nur bewusst über genannte Phänomene werden, die Positivitä­t aus der Verdrängun­g holen, das würde eine kreative Haltung der Zukunft gegenüber unterfütte­rn.

Beispiel: Die Vorfreude ist sehr wichtig, da sie aus dem Alltag befreien kann, kann aber auch Quelle für Enttäuschu­ng sein, wenn die Erwartungs­haltung zu hoch war. Sie muss aber laut Kast völlig losgelöst von der Erwartung gelebt werden, denn „wenn das Erlebnis besser ist als erwartet, kann die Vorfreude nicht nachgeholt werden“. Auch die Bedeutung der Hoffnung beschreibt Kast. Es gebe nicht nur Angst, sondern auch Hoffnung: es muss doch besser werden. „Hoffnung ersäuft Angst“, wusste auch schon Ernst Bloch. Dazu gehöre auch Vertrauen. Vertrauen durch andere, in andere, mit anderen und in anderes. So herrsche im Alltag Vertrauen in den Lokführer, obwohl man den nicht kenne. Und das bringt eine Grundüberz­eugung Kasts ins Spiel, die auch die Lindauer Narren oft so formuliere­n: „Es gibt ein Leben vor dem Tod.“Heißt ganz einfach, „ich will die Zeit, die mir bleibt, nutzen, denn wir müssen nicht nur sterben, sondern wir dürfen auch leben!“

„Etwas Besseres als den Tod findest du allemal“zitiert Verena Kast den Esel der Bremer Stadtmusik­anten.

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 ?? FOTO: CHRISTIAN FLEMMING ?? Verena Kast, Ehrenpräsi­dentin der internatio­nalen Gesellscha­ft für Tiefenposy­chologie, hält den Eröffnungs­vortrag zur Arbeitstag­ung 2018 zum Thema „Lust auf Zukunft – Sorge, Zweifel, Zuversicht“.
FOTO: CHRISTIAN FLEMMING Verena Kast, Ehrenpräsi­dentin der internatio­nalen Gesellscha­ft für Tiefenposy­chologie, hält den Eröffnungs­vortrag zur Arbeitstag­ung 2018 zum Thema „Lust auf Zukunft – Sorge, Zweifel, Zuversicht“.

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