Tiefenpsychos haben „Lust auf Zukunft“
Knapp 700 Teilnehmer treffen sich in der Inselhalle zur Arbeitstagung.
LINDAU - „Lust auf Zukunft“ist das Thema der diesjährigen Arbeitstagung der Tiefenpsychologen in Lindau, verbunden mit dem Untertitel „Sorge, Zweifel, Zuversicht“. Ein Thema, brandaktuell, was die weltweite Entwicklung in verschiedenen Gesellschaften anbelangt, brandaktuell aber auch, was Lindau betrifft. Letzteres hat Lindaus Oberbürgermeister Gerhard Ecker bei seiner Begrüßung den fast 700 Tagungsteilnehmern präsentieren können.
Von der „neuen Inselhalle“angefangen, in die die Tiefenpsychologen nach vierjährigem Exil im Stadttheater wieder zurückkehren konnten, über die Unterführung unter der Bahnlinie, die „nach über 100 Jahren Diskussion und Planung“nun Realität geworden sei und mittlerweile auch von Bedenkenträgern akzeptiert werde, habe die Lust auf Zukunft auch in Lindau zugenommen, so Ecker. Es sind allerdings nicht nur die Lindauer, die Neuem voller Skepsis begegnen, aber auch den bestehenden Ordnungen misstrauen. Das Phänomen grassiert weltweit, das Spaltende gewinnt in der politischen Weltlage wie in den Gesellschaften wieder an Einfluss. Warum das so ist und wie dem Widerstand geleistet werden kann, darüber machen sich Referenten und Teilnehmer der Tagung Gedanken. Verena Kast, Ehrenpräsidentin der internationalen Gesellschaft für Tiefenpsychologie, setzte mit ihrem Eröffnungsvortrag am Sonntag schon gewichtige Impulse für die Woche.
Wo es keine großen Utopien gibt, müssen kleine her
Unter dem Thema „Utopie oder Retropie – Von der Versuchung, Opfer zu sein und von der Lust am Gestalten“wehrt sich Verena Kast gegen den Megatrend, die Vergangenheit zu romantisieren, gegen Aussagen wie „das Beste liegt offenbar hinter uns“, und hält solchen Einstellungen den alten Esel der Bremer Stadtmusikanten entgegen, der da sprach: „Etwas Besseres als den Tod findest du allemal“.
In einer Zeit, in der „wir lange keine großen Utopien mehr haben“, seine kleine Utopien wichtig. Als Beispiel nennt Kast sauberes Wasser für alle, ebenso „Teilen anstatt Wegwerfen“, alles Utopien, die sich auf die Gesellschaft positiv auswirken und auch der Umwelt helfen könnten. Aber es gäbe auch Punkte – zum Beispiel die Emanzipation – die für die einen positive Utopie, für andere aber eine Dystopie bedeuteten, also eine negativ besetzte Utopie.
In der Retropie werde der Glaube an eine bessere Zukunft ersetzt durch eine Vergangenheitssucht. Angesichts dessen sei es aber „erstaunlich, dass es uns immer noch gibt“, stellt Kast fest. Das untermauert sie mit der These des Philosophen Zygmunt Baumann, der sich in seinen letzten Lebensmonaten mit „Retrotopia“beschäftigt hatte und eine vierfache Rückwärtsbewegung in unserer Zeit diagnostizierte: „Zurück zu Hobbes“, „zurück zum Stammesfeuer“, „zurück zu sozialer Ungleichheit“und „zurück zum Mutterleib“. Zurück zu Hobbes bedeutet, dass wir uns wieder im Krieg aller gegen alle befänden, das Schlachtfeld zum Markt zivilisiert wurde und die heißen Kriege in die Dritte Welt ausgelagert wurden. Retrotopes Denken biete nach Baumann zwei Rettungsmodelle. „Zurück zum Stammesfeuer“, also zu einer identitären, homogenen Gemeinschaft, die durch Verschwörungstheorien und Bedrohungsszenarien stabilisiert werde und die Welt in ein „Wir“und ein „Die anderen“teile. Und „Zurück zum Mutterleib“, ein Rückzug in virtuelle Spiegelsäle und soziale Netzwerke.
Allerdings sieht Verena Kast in der Nostalgie nicht grundsätzlich Schlechtes. „Nostalgie und Fortschritt gehören zusammen“, sagt sie. So habe die Nostalgie in der Romantik des späten 19. Jahrhunderts zu wertvollen volkskundlichen Sammlungen geführt, überhaupt zu Sammlungen und Museen. Es sei auch nicht ganz falsch, Geborgenheit in Erinnerung zu suchen, um so überleben zu können. „Wir suchen Menschen, mit denen wir Übereinstimmungen haben“, erklärt sie dazu. Rituale und Gedenktage würden verbinden, beruhigen und Hochgefühle vermitteln. Gefühle und Identität zu teilen, sei durchaus wichtig. Allerdings müsse man sie als Wurzel für Neues begreifen.
Kleine Probleme türmen sich zu großen auf
„Wie kommen wir zu mehr Positivität?“diese Frage bringt bei Verena Kast den Philosophen Odo Marquard mit dem „Gesetz der zunehmenden Penetranz der negativen Reste“ins Spiel. Demzufolge türmen sich stets neue, eigentlich kleine Probleme zu ganz großen auf, sobald große beseitigt seien. Marquard weiß aber auch eine Lösung: „Nein zu Nein“. Klingt einfach, hat aber durchschlagende Folgen, beschreibt Kast. Man müsse sich nur bewusst über genannte Phänomene werden, die Positivität aus der Verdrängung holen, das würde eine kreative Haltung der Zukunft gegenüber unterfüttern.
Beispiel: Die Vorfreude ist sehr wichtig, da sie aus dem Alltag befreien kann, kann aber auch Quelle für Enttäuschung sein, wenn die Erwartungshaltung zu hoch war. Sie muss aber laut Kast völlig losgelöst von der Erwartung gelebt werden, denn „wenn das Erlebnis besser ist als erwartet, kann die Vorfreude nicht nachgeholt werden“. Auch die Bedeutung der Hoffnung beschreibt Kast. Es gebe nicht nur Angst, sondern auch Hoffnung: es muss doch besser werden. „Hoffnung ersäuft Angst“, wusste auch schon Ernst Bloch. Dazu gehöre auch Vertrauen. Vertrauen durch andere, in andere, mit anderen und in anderes. So herrsche im Alltag Vertrauen in den Lokführer, obwohl man den nicht kenne. Und das bringt eine Grundüberzeugung Kasts ins Spiel, die auch die Lindauer Narren oft so formulieren: „Es gibt ein Leben vor dem Tod.“Heißt ganz einfach, „ich will die Zeit, die mir bleibt, nutzen, denn wir müssen nicht nur sterben, sondern wir dürfen auch leben!“
„Etwas Besseres als den Tod findest du allemal“zitiert Verena Kast den Esel der Bremer Stadtmusikanten.