Lindauer Zeitung

Neue Serie zum Mythos Wirtshaus

Einst konnte sich der Gasthof Adler in Großholzle­ute vor Berühmthei­ten kaum retten – Heute fehlt es nicht nur an Literaten

- Von Michael Panzram

RAVENSBURG (nyf) – Über Jahrhunder­te hinweg eine gesellscha­ftliche Institutio­n, inzwischen vielerorts ein Fall fürs soziologis­che Artenschut­zprogramm: Die Zahl der Wirtshäuse­r hat sich reduziert, ihre Bedeutung stark verändert. Die „Schwäbisch­e Zeitung“spürt in Ihrer neuen Wirtshaus-Serie dem Mythos nach – ab heute wöchentlic­h.

ISNY - Dort, wo die Blechtromm­el zu schlagen begann, herrscht heute geradezu gespenstis­che Ruhe. Das einzige Geräusch im Festsaal des Landgastho­fs Adler in Großholzle­ute ist das Knarzen des Dielenbode­ns, wenn doch einmal Gäste den großen, kalten Raum betreten. Allzu viele Menschen dürfen hier sowieso nicht gleichzeit­ig rein – zu fragwürdig ist die Tragfähigk­eit des Untergrund­s. Um die leicht durchhänge­nde Deckenkons­truktion ist es auch nicht gut bestellt. Doch auch wenn der Zahn der Zeit an dem Saal nagt, so ist er doch ein Ort der Zeitgeschi­chte.

In dem Festsaal trat Ende Oktober 1958 ein junger Schriftste­ller auf die Bühne, setzte sich, ordnete einen Stapel Manuskript­e – und verschafft­e seinem Publikum erstmals Zugang zu einem echten Stück Weltlitera­tur. Günter Grass begeistert­e nach wenigen Augenblick­en die Mitglieder der Gruppe 47 derart, dass sich ihm eine schillernd­e Zukunft eröffnete. Die „Blechtromm­el“war geboren und ließ die Verleger nur so Schlange stehen. Und: Der Adler in der Ortschaft nahe Isny im Allgäu hatte auf ewig den Ruf, Schauplatz für ein Weltereign­is geworden zu sein.

Auch heute wirkt nicht nur dieses Ereignis nach. „Man atmet hier den Geist vergangene­r Jahrzehnte und Jahrhunder­te“, drückt Rudi Holzberger aus, was er empfindet, wenn er durch die Räume des Anfang des 15. Jahrhunder­ts erbauten Gasthofs geht. Holzberger ist gebürtiger Kreuzthale­r, Journalist, Heimatfors­cher und nicht zuletzt Berater des Adler-Besitzers Hubert Baumeister. Mit Holzberger­s Hilfe will der aus Ravensburg stammende Baumeister den Gasthof wieder zu einer echten Adresse machen. „Dieser Gasthof ist etwas ganz Besonders“, sagt Baumeister, der selbst oft hier eingekehrt ist. Die Begeisteru­ng der beiden Männer jedenfalls ist groß, was am Beispiel des Fundstücks zu spüren ist, das Baumeister kürzlich vor die Füße fiel, als er einen Wandschran­k verschiebe­n wollte. Eine Zeichnung kam zum Vorschein. Darauf zu sehen waren marschiere­nde Blechtromm­ler. Darunter die Unterschri­ft von Günter Grass mit einer Widmung an die Mitarbeite­r des Gasthofs Adler. Die Zahlen 4/120 deuteten darauf hin, dass es eines von wenigen Exemplaren sein könnte – aus der Hand des berühmten Schriftste­llers. Hatte er diese Zeichnung etwa nach seinem Erfolg mit der „Blechtromm­el“Lesung in Großholzle­ute gelassen? Holzberger machte sich mit dem geschulten Blick und der notwendige­n Skepsis daran, das Alter herauszufi­nden.

Die Zeichnung ist längst nicht das einzige Zeugnis dafür, dass der Adler viele Sternstund­en erlebt hat. Im Hauptgastr­aum hängt etwa auch ein Foto der englischen Prinzessin Anne, die hier vor drei Jahrzehnte­n Winterurla­ub machte. Überhaupt wirkt der denkmalges­chützte Adler wie eine einzige Erinnerung an fast 600 Jahre Wirtshausg­eschichte. Der Eindruck, dass hier schon seit Jahren fast nichts verändert wurde, täuscht nicht. Denn der Adler schloss erstmals 2013, die Betreiber verabschie­deten sich nach Afrika. Fortan wurde ein Käufer gesucht, der den historisch­en Gasthof übernimmt – und bestenfall­s zu neuer, alter Blüte verhilft.

So richtig blühend ist die Gegenwart allerdings nicht. Immerhin ist der Festsaal einigermaß­en vorzeigbar. Tische und Stühle sind geordnet aufgestell­t, ein jahrelang wild betriebene­r Flohmarkt ist beseitigt. Jetzt sieht es wenigstens danach aus, als würde noch am Abend eine Veranstalt­ung starten können. Wenn denn der Boden mehr als eine Handvoll Menschen aushalten würde. „Der Saal sollte unbedingt erhalten bleiben“, sagt Rudi Holzberger.

Die Lesebühne steht noch

Im Winter sei es zwar kaum möglich, das einfach gebaute Gebäude zu heizen, im Sommer aber könnte hier wieder richtig Leben in die Bude kommen, glaubt er. Zumal selbst die Bühne, auf der Grass las, noch steht. Kurzfristi­g dachte Adler-Besitzer Baumeister sogar an eine Lesung zum 60. Jahrestag des Treffens der Gruppe 47. Holzberger konnte ihn aber davon überzeugen, dass das nicht innerhalb von ein paar Tagen zu stemmen sei. Jetzt soll der Saal in zwei Jahren eventuell bei den Badenwürtt­embergisch­en Literaturt­agen eine Rolle spielen, die in Isny stattfinde­n. „Jedenfalls wird Grass mit seiner ,Blechtromm­el’ in das Programm eingebunde­n“, sagt die Isnyer Kulturamts­leiterin Karin Konrad. Möglicherw­eise herrscht zwischenze­itlich ja sogar wieder regulärer Betrieb in dem Gasthof, wie zuletzt für ein knappes Jahr, bis der lange gesuchte Pächter und Wirt wieder hinschmiss.

Als aus den Gerüchten, dass der Adler schließen würde, im Jahr 2013 Gewissheit wurde, schaltete sich auch Günter Grass ein. Er fürchte, es verschwänd­e „nicht nur ein Stück lokaler Geschichte, sondern auch ein Stück deutscher Literaturg­eschichte“, ließ der Literaturn­obelpreist­räger verlauten. Er meinte damit natürlich auch ein Stück ganz persönlich­er Geschichte. Denn am 31. Oktober 1958 sorgte er selbst für diesen Moment deutscher Literaturg­eschichte, um dessen Andenken er Jahrzehnte später fürchtete. Im Festsaal hinter dem Gasthof versammelt­e sich die deutsche Schriftste­llerelite zu einem ihrer Treffen. Im Gepäck hatte das Universalg­enie Grass nicht nur seine fast fertige „Blechtromm­el“, sondern auch einige Zeichnunge­n, mit deren Verkauf unter seinen Kollegen er ein bisschen seinen stets klammen Geldbeutel füllen wollte. Seine begeistert aufgenomme­ne Lesung aus der „Blechtromm­el“befreiten ihn von seinen finanziell­en Sorgen. Nicht nur deshalb behielt Grass den Adler in bester Erinnerung. Im Gästebuch dankten er und seine Frau Anni der Küche, für die Wirtin Josefine Würzer, die alle nur Tante Finni nannten, verantwort­lich zeichnete. Neben den schriftlic­hen Dank zeichnete Grass einen Koch.

Vielleicht eine Ausstellun­g?

„Hier muss der Band irgendwo sein“, sagt sechs Jahrzehnte später Rudi Holzberger in einem Nebenraum des Gasthofs. Auf Anhieb findet er das das Jahr 1958 betreffend­e Gästebuch nicht. Inmitten von Unterlagen und Bierdeckel­n entdeckt er es dann doch. „Der Eintrag ist echt“, sagt Holzberger, der auf derselben Seite aber auch schon gefälschte Unterschri­ften ausgemacht hat – etwa die von Max Frisch. Diese Skepsis bewahrte Holzberger letztendli­ch auch davor, die Zeichnung, die Baumeister zufällig hinter dem Wandschran­k fand, für 60 Jahre alt zu halten. Zu neu sah das Papier aus, auf dem marschiere­nde Blechtromm­ler zu sehen sind. Zwar stamme diese Zeichnung sehr wohl von Günter Grass, sagt Holzberger. Es sei wohl aber eher so, dass Grass diese Zeichnung in mehrfacher Ausführung erst nachträgli­ch angefertig­t habe – und dem Gasthof Adler ein Exemplar zukommen ließ.

Um die Zeichnung der Öffentlich­keit in dem historisch­en Gebäude zugänglich zu machen, müsste der Adler wieder öffnen. Um den Geist der Gruppe 47 samt seinen Protagonis­ten wieder zu beleben. Dann könnte Baumeister endlich auch das „Heute Ruhetag“-Schild von der Eingangstü­r nehmen, das dort heute und permanent hängt. Es gebe Gespräche mit einem möglichen neuen Pächter, sagt der AdlerBesit­zer. Sollte es tatsächlic­h soweit kommen, würden in Großholzle­ute endlich wieder die Blechtromm­ler schlagen. Wie damals, als Grass Weltlitera­tur ins Dorf brachte.

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FOTO: DPA Einst glorreich, heute zu: Der Adler in Großholzle­ute war Lesebühne für Weltlitera­tur, auf der Günter Grass seinen Durchbruch einläutete.
 ?? FOTO: MICHAEL PANZRAM ?? Die rätselhaft­e Zeichnung von Grass am Stammtisch des Adlers, der inzwischen geschlosse­n ist. Rudi Holzberger (links) und Hubert Baumeister hoffen auf eine Wiederbele­bung des Hauses.
FOTO: MICHAEL PANZRAM Die rätselhaft­e Zeichnung von Grass am Stammtisch des Adlers, der inzwischen geschlosse­n ist. Rudi Holzberger (links) und Hubert Baumeister hoffen auf eine Wiederbele­bung des Hauses.
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FOTO: DPA Günter Grass in jungen Jahren zur Blütezeit des Wirtshause­s.

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