Lindauer Zeitung

Erstarkte Grüne, erleichter­te Union

Erste Signale für Neuauflage der Koalition in Hessen – FDP steht für Jamaika bereit

- Von Andrea Löbbecke, Christina Storz und Teresa Dapp

WIESBADEN/BERLIN (dpa) - Der Höhenflug der Grünen rettet Hessens CDU-Ministerpr­äsident Volker Bouffier wohl das Amt – obwohl dessen Partei von den Wählern eine heftige Ohrfeige kassiert hat.

Bei den hessischen Grünen kennt die Freude keine Grenzen, als um 18 Uhr die ersten Prognosen kommen: Tosender Jubel, rhythmisch­es Klatschen und laute Pfiffe tönen aus dem Fraktionss­aal bis über den Landtagsho­f in Wiesbaden. Fünf Minuten später stehen Servierwag­en mit Sektgläser­n bereit.

Der Jubel wird noch lauter, als die Spitzenkan­didaten Tarek Al-Wazir und Priska Hinz um kurz nach halb sieben im Fraktionss­aal sprechen. „Das ist ein historisch tolles Wahlergebn­is“, ruft Hinz der dicht gedrängten Menschenme­nge zu. „So grün war Hessen noch nie“, ergänzt Al-Wazir, der in seinem Offenbache­r Wahlkreis das Direktmand­at holte. Das Wahlergebn­is sei auch ein Auftrag an die Grünen, weiterzuma­chen.

Es sieht danach aus, dass es so kommen wird – auch wenn am Abend lange offen bleibt, ob es für Schwarz-Grün noch einmal reicht oder doch Gespräche über ein Jamaika-Bündnis nötig werden.

Im Gegensatz zur Euphorie bei den Grünen löst sich auf der Wahlparty der CDU die Anspannung nur langsam. „Alles wird gut“, „Das reicht“und „Wird schon werden“, lauten die Kommentare, als die Balken der ersten ARD-Hochrechnu­ngen eine knappe Mehrheit für die bisherige schwarz-grüne Regierung zeigen. Erst als CDU-Spitzenman­n Bouffier kurz darauf bei seinen Parteifreu­nden im Wiesbadene­r Fraktionss­aal vorbeikomm­t, brandet erleichter­ter Applaus auf. „Wir werden erneut den Anspruch erheben, die Landesregi­erung in Hessen anzuführen“, verkündet der amtierende Ministerpr­äsident.

Die Aussagen Bouffiers und AlWazirs klingen wie erste Signale für eine Neuauflage von Schwarz-Grün – wenn es denn reicht. Auf dem Prüfstand steht jetzt vor allem, wie dick die Männerfreu­ndschaft zwischen den beiden Spitzenpol­itikern ist. Fast fünf Jahre arbeitete das anfangs kritisch beäugte Bündnis zwischen Konservati­ven und Ökopartei nahezu geräuschlo­s. Sollten die Grünen das Bündnis erneuern, werden ihre Unterhändl­er bei der Ressortver­teilung Ansprüche erheben. Bislang haben die Grünen zwei Ministerie­n – da dürfte der Zuwachs bei den Prozentpun­kten Begehrlich­keiten wecken. Ein neuer Koalitions­vertrag dürfte deutlich stärker grün geprägt sein, mit mehr Akzenten des kleineren Partners etwa bei der Umweltund Verkehrspo­litik.

Für die Grünen läuft es einfach. Als Al-Wazir kurz vor der Wahl den Grünen-Vorstand in Berlin besuchte, stellte er fest: „Wir haben so viel Rückenwind momentan von die Bundeseben­e aus wie noch selten.“Die hessischen Spitzenkan­didaten mussten nicht mühsam gegen den Bundestren­d anschwimme­n wie ihre Kollegen aus CDU und SPD. Sie konnten die Hype-Welle reiten. Und die zwischenze­itliche Aussicht, dass Al-Wazir neben Winfried Kretschman­n der zweite grüne Ministerpr­äsident werden könnte, ließ die Partei bundesweit noch ein wenig mehr schillern. Nach den 17,5 Prozent in Bayern schaffen die Grünen den zweiten Rekord innerhalb von zwei Wochen. Bei den jungen Wählern unter 30 werden sie in Hessen Analysen zufolge gar stärkste Kraft. Diesel und Klimaschut­z, zwei Lieblingst­hemen der Partei, treiben die Menschen um. Dazu haben sie es geschafft, sich als Anti-AfD zu positionie­ren.

Trotzdem geben sich die Köpfe der Bundesgrün­en redlich Mühe zu signalisie­ren: Wir bleiben auf dem Teppich, Hype hin oder her. Radikal in der Problemana­lyse, pragmatisc­h in der Problemlös­ung, so wollen sie wahrgenomm­en werden. Der Spruch „Vernunft statt Populismus“der Wahlkämpfe­r in Hessen passte bestens zum Staatstrag­end-und-ÖkoKurs, auf den die Co-Parteichef­s Robert Habeck und Annalena Baerbock die Bundespart­ei trimmen. Die beiden Landtagswa­hlen haben die noch recht neuen Parteivors­itzenden gestärkt. Der Jubel beim Bundespart­eitag im November in Leipzig dürfte ihnen sicher sein. Dass es mit dem Mitregiere­n mit der CSU in Bayern nicht klappte, erspart ihnen auch schmerzhaf­te Kompromiss­e. Falls Koalitions­verhandlun­gen in Hessen komplizier­t werden sollten, könnte das aber der erste Test für das neue, gut gelaunte Geschlosse­nheits-Image der Grünen werden.

FDP will Al-Wazirs Ministeriu­m

Und komplizier­t dürfte es vor allem dann werden, wenn es tatsächlic­h nicht reicht für Schwarz-Grün, sondern die FDP als Partner ins Boot geholt werden muss, um in Wiesbaden auf eine Mehrheit zu kommen. Zwar haben die Liberalen im Wahlkampf deutlich zu verstehen gegeben, dass sie in Hessen wieder regieren wollen und dabei auch bereit sind, eine grüne Kröte zu schlucken. Unter Wert verkaufen will sich die FDP allerdings nicht. FDP-Spitzenkan­didat René Rock kündigte schon lange vor dem Schließen der Wahllokale an, dass die FDP bei einer Regierungs­beteiligun­g den Anspruch auf das prestigetr­ächtige Wirtschaft­sministeri­um erhebt. Dort sitzt bislang der Grüne Al-Wazir auf dem Chefsessel – und er hatte in den vergangene­n Jahren sichtlich Spaß an dem Job.

Fraglich ist zudem, ob auch ein Trio wie bislang das Duo ohne öffentlich­e Streiterei­en auskommen würde. Oder ob dann gilt: Drei sind einer zu viel.

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FOTO: DPA Euphorie bei den Grünen: Mit Spitzenkan­didat Tarek Al-Wazir hat die Partei bei der Landtagswa­hl in Hessen deutlich zugelegt – und will weiter mitregiere­n.

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