Merkel verkündet Rückzug auf Raten
Sie tritt nicht mehr als CDU-Chefin an, will aber bis 2021 Kanzlerin bleiben – Junger Union geht das nicht weit genug – Friedrich Merz plant seine Rückkehr
BERLIN/STUTTGART - Zeitenwende in Berlin: Unter dem Druck massiver Unzufriedenheit mit der Regierung und dem neuerlichen CDU-Wahldebakel in Hessen hat Kanzlerin Angela Merkel das Ende ihrer politischen Ära eingeleitet. Sie möchte im Dezember nach 18 Jahren im Amt den Parteivorsitz abgeben und sich 2021 ganz aus der Politik zurückziehen. Bis zum Ende der Legislaturperiode wolle sie aber Kanzlerin bleiben, sagte Merkel, die ihren Schritt „ein Wagnis“nannte und von „einer Zäsur“sprach. „Das Bild, das die Regierung abgibt, ist inakzeptabel“, sagte die Kanzlerin. Sie habe „das sichere Gefühl, dass es heute an der Zeit ist, ein neues Kapitel aufzuschlagen“.
Kaum hatte Merkel dies gesagt, meldeten sich Annegret Kramp-Karrenbauer und Jens Spahn als Kandidaten für die Nachfolge. Armin Laschet, der Düsseldorfer Regierungschef, will sich die Entscheidung noch ein paar Tage offenhalten. Am meisten Aufsehen aber erregte die Nachricht, dass auch der frühere Unionsfraktionschef Friedrich Merz eine Kandidatur anstrebt.
Dies elektrisierte viele CDU-Politiker im Südwesten. In einem Brief sprachen sich unter anderem der Hohenloher Abgeordnete Christian von Stetten, Ravensburgs Kreisvorsitzender Christian Natterer sowie der ehemalige Leutkircher Bundestagsabgeordnete Waldemar Westermayer für Merz aus. Dabei ist auch Georg Brunnhuber, der frühere Landesgruppenchef der baden-württembergischen CDU. Er sagte der „Schwäbischen Zeitung“, mit Merz könnte „eine neue gestalterische Diskussion beginnen. Solche Talente hat die CDU nicht viele.“
Bundesvize Thomas Strobl, Chef der Südwest-CDU, nannte Merkels Entscheidung einen „respektablen Schritt“. Sie gebe der CDU die Möglichkeit, einen erfolgreichen Übergang zu organisieren. Ähnlich äußerte sich Justizminister Guido Wolf. Die Trennung von Parteivorsitz und Kanzleramt böte die Chance, sich wieder breiter aufzustellen. „Wir brauchen neue Köpfe, die sich bewähren können – auch, um für die Zeit nach der Kanzlerschaft von Angela Merkel gerüstet zu sein.“
Geht es nach der Jungen Union im Südwesten, sollte dies schnell passieren. Landeschef Philipp Bürkle forderte im Gespräch mit der „Schwäbischen Zeitung“das baldige Ende ihrer Kanzlerschaft. „Wir glauben, dass Angela Merkel schon richtig lag und der Parteivorsitzende auch Kanzler sein sollte“, sagte Bürkle. „Der neue Bundesvorsitzende sollte daher auch die Regierung anführen und konsequenterweise Bundeskanzler werden.“
Noch deutlicher wurden Politiker der Opposition, vor allem der AfD. Auch FDP-Chef Christian Lindner erklärte, Merkel gebe „das falsche Amt ab“. SPD-Chefin Andrea Nahles sieht derweil trotz der schweren Niederlage ihrer eigenen Partei in Hessen keinen Grund für eigene Konsequenzen. „Eine personelle Neuaufstellung ist nicht in Rede in der SPD“, sagte Nahles am Montag in Berlin.
BERLIN - Andrea Nahles gibt nicht auf. Als sie am Montagnachmittag ins Atrium des Willy-Brandt-Hauses kommt, hat die SPD-Chefin sogar ein Lächeln auf den Lippen – und das am Tag nach dem Hessen-Debakel. Was Nahles lächeln lässt, versteckt sie nur notdürftig in ein paar warmen Worten über die scheidende CDUVorsitzende: So erinnert die SPDChefin daran, dass Angela Merkel „als erste Frau in diese Aufgabe“gewählt und „damals immer wieder von den Männern – auch in den Medien – belächelt oder für schwach erklärt“worden sei.
Nahles spricht über Merkel – und meint doch sich selbst. Und in dieser rhetorischen Spiegelung macht sie gleich noch eine deutliche Ansage an alle Genossen, die sie vom Vorsitz verdrängen wollen: „Sie hatte den stärkeren Willen und meistens auch die besseren Nerven als ihre innerparteilichen Kritiker.“
Wechsel an CDU-Spitze begrüßt
Angela Merkel mag sich jetzt, nach 18 Jahren, ihren Widersachern gebeugt haben, Nahles ist trotz aller Probleme in Partei und Regierung nach einem halben Jahr noch nicht dazu bereit. Im Gegenteil: Sie sagt, sie begrüße den bevorstehenden Wechsel an der CDU-Spitze, weil sie hoffe, dass die Konflikte beim Koalitionspartner damit beendet werden können. Ansonsten will sie mit der Personalie aber nichts zu tun haben. „Wir haben eigene Hausaufgaben zu machen“, sagt sie und formuliert etwas ungelenk: „Eine personelle Neuaufstellung ist nicht in Rede in der SPD.“
Stattdessen will sie nach vorn blicken und hat, wie schon am Sonntag angekündigt, einen Fahrplan vorgelegt, der das Handeln von Partei und Regierung für die kommenden zwölf Monate festlegen soll. „Wir erwarten von der Union, dass sie ihre inhaltlichen und personellen Konflikte schnell löst“, heißt es darin unter anderem. Die Genossen geben dem Koalitionspartner Zeit bis Dezember – also bis zum CDU-Parteitag. Zudem gibt es im Nahles-Fahrplan eine Liste von Gesetzen und dazugehörigem Termin. So soll beispielsweise das Gute-Kita-Gesetz noch in diesem Jahr verabschiedet werden. Daran allerdings zweifelte sowieso kaum jemand. Bei einer Vorstandsklausur am 4./5. November soll der Koalitionsfahrplan für eine bessere Arbeitsweise beschlossen werden. Er soll konkrete Zeitpläne enthalten, bis wann welche Projekte beschlossen werden.
Vielen reicht das nicht
Vielen in der Partei reicht das nicht. Sie verlangen etwa, dass Hans-Georg Maaßen endlich die Spitze des Verfassungsschutzes verlässt, und sie wollen auch, dass Innenminister Horst Seehofer (CSU) zurücktritt – beides erwähnt Nahles’ Plan nicht. Zwar ist die Rede davon, dass der Erneuerungsprozess beschleunigt werden soll. Einigen ist aber selbst das zu langsam. Juso-Chef Kevin Kühnert verlangte am Montag, den für Ende 2019 geplanten SPD-Parteitag auf das Frühjahr vorzuziehen. Dort sollen dann auch nicht nur inhaltliche Positionen geklärt werden. Auch die Parteispitze müsse sich zur Wiederwahl stellen, fordert Kühnert. Parteilinke rund um den Bundestagsabgeordneten Marco Bülow und die Flensburger Oberbürgermeisterin Simone Lange verlangten gar den Austritt aus der Koalition und den Rücktritt der gesamten Parteispitze – und zwar sofort. „Wir brauchen einen radikalen Neuanfang“, heißt es in einem Aufruf, den die Gruppe am Montag verschickte. Dass es dazu kommt, ist allerdings unwahrscheinlich. Denn Andrea Nahles hat sich mit ihrem Fahrplan auch Zeit gekauft.
Für Kühnert ist das Urteil klar
Was jedoch passiert, wenn diese Zeit abläuft, da gehen die Meinungen in der SPD sehr weit auseinander. Während für Kühnert feststeht, dass das Urteil über die Große Koalition schon „final gesprochen“wurde, hofft Nahles noch auf eine Fortsetzung der Regierung. „Entweder findet die Koalition die Kraft, die großen Fragen zu adressieren”, sagt sie und spart das „Oder“einfach aus. Als dann doch jemand bei Nahles nachhakt, wie diese Alternative zum „Entweder“denn aussehen könnte, erklärt sie nur knapp: „Mir fehlt die Fantasie, zu glauben, dass wir keine Lösung finden.“