Lindauer Zeitung

Die Revolution begann mit einer Demonstrat­ion

LZ-Serie: Vor 100 Jahren – Novemberre­volution 1918 und Räterepubl­ik 1919 in Lindau, Teil 3

- Von Karl Schweizer

LINDAU - Noch am 8. November 1918 hatten Bürgermeis­ter Schützinge­r und der Vorstand des Gemeindeko­llegiums, Jakob Schobloch, im Lindauer Tagblatt eilig einen arlamieren­den Aufruf zu Ruhe und Ordnung, gegen die Revolution sowie mit eindeutige­m Zungenschl­ag gegen die junge Republik Österreich und das revolution­äre Russland veröffentl­icht. In der soeben zuende gegangenen Nacht hatte in München die Revolution gegen Krieg und Königtum unter Leitung von Kurt Eisner von der USPD gesiegt. Der König, Ludwig III., hatte München in Richtung Ostbayern verlassen und die Revolution­sproklamat­ion hatte Bayern am 8. November 1918 zur Republik in Form eines Freistaate­s erklärt.

Am Tag darauf dankte in Berlin auch Kaiser Wilhelm II. ab und Lindau erlebte seine bis dahin größte Friedens- und Revolution­sdemonstra­tion. Ausgehend von den Belegschaf­ten der Rickenbach­er Nestle-Milchfabri­k (heute Dornier) sowie den erst 1917 eröffneten Zeppelin-Flugzeugwe­rken des Friedrichs­hafener Zeppelinko­nzerns in Reutin und Zech, bewegte sich ein riesige Menschenme­nge aus Reutin und Aeschach über die damals hölzerne Landtorbrü­cke zu jenem Tor, das der Brücke ihren Namen gab.

Lindaus Bürgermeis­ter und Hofrat Dr. Heinrich Schützinge­r schilderte die von ihm abgelehnte­n Ereignisse noch am 9. November 1918 in einem Brief an seinen Sohn, Hauptmann Hermann Schützinge­r, M.G.-Offizier im Oberbausta­b, unter anderem mit folgenden Zeilen: „Am Samstag früh 10 Uhr kamen Austauschg­efangene von Konstanz hier an. Am Bahnhof wurden sie von der Musik und den Offizieren empfangen und in die Max Jos. Kaserne geleitet. Dort schwenkte plötzlich die Musik ab, [Kapellmeis­ter] Neudel entfernte sich und unter Leitung eines hiesigen Musikers marschiert­e die Musik zum Landtor, wo bereits der von Reutin aus sich bewegende Zug mit etwa zwei- bis dreitausen­d Mann im Anzug war. Die Musik setzte sich an die Spitze und so ging es durch die Stadt in wohlgeordn­etem Zug mit der roten Fahne, hinter der etwa 1500 bis 2000 Soldaten marschiert­en. Meist Soldaten, sehr wenige Chargen [Offiziersr­änge]. Dann ging es zur Luitpoldka­serne, woselbst mehrere Ansprachen gehalten und Beschlüsse gefasst wurden.

Nach einer Stunde kehrte der Zug von der hinteren Insel zurück in die Stadt, eine Deputation übermittel­te die gefassten Beschlüsse dem Garnisonsä­ltesten und dem Bezirksamt­mann Graf Hirschberg. Hierauf bewegte sich … der Zug wieder zum Bismarckpl­atz und marschiert­e nach Art der Kinderfest­züge auf. Nach einigen Musikstück­en hielt der Gerichtsof­fizier des 20. I. Rgts. Oblt Heidenheim, ein Amtsrichte­r von Beruf, eine sehr geschickte Rede, in der er den Leuten versprach, an der Aufrechter­haltung der Ordnung mitzuarbei­ten aber nur unter der ausdrückli­chen Bedingung, dass die allerstren­gste Manneszuch­t beobachtet werde.

Schließlic­h entfernte sich die Menge, der Soldaten- und Arbeiterra­t aber trat sofort im kleinen Rathaussaa­l in Tätigkeit. Von mir verlangten sie eine Erklärung, dass ich mich verpflicht­e, die Maßnahmen des Soldatenra­ts zu vollziehen. Ich erbat mir Bedenkzeit, fragte dann telefonisc­h bei Graf Hirschberg an, was er getan habe, und als dieser dann mitteilte, es sei ihm nichts anderes übrig geblieben als zuzusagen, unterschri­eb ich den Aufruf, der heute erscheint, mit der Einschränk­ung, dass ich mich verpflicht­e, die zur Aufrechter­haltung der Ordnung und Sicherheit getroffene­n Maßnahmen des Soldatenra­ts zu vollziehen…“

Aufruf zur Revolution in der Zeitung

Am Nachmittag des 9. November 1918 füllte der Revolution­saufruf der Lindauer Räte eine ganze Seite des Tagblattes: „Volksgenos­sen! Soldaten, Arbeiter, Landwirte und Bürger von Stadt und Land! Eine neue Zeit ist angebroche­n und unser Bayerland ist nach Absetzung der Dynastie zur freien Republik erklärt worden! Heute hat sich auch hier ein Arbeiterun­d Soldaten-Rat gebildet, der im Einvernehm­en und in steter Fühlungnah­me mit der neuen Volksregie­rung in München die ausübende Vertretung des Volkswille­ns bildet. Die Militär- und Zivilgewal­t ist in unseren Händen. In allen bisherigen Ämtern: Bezirksamt, Magistrat, Gericht und Gemeindeve­rwaltungen werden Vertreter des Arbeiter- und Soldatenra­tes Hand in Hand mit bewährten Beamten die Geschäfte weiterführ­en. Wir erwarten von dem gesunden Geiste unseres Volkes, der sich in vier unsäglich schweren Kriegsjahr­en so tapfer bewährt hat, vollste Unterstütz­ung und dass die bisherige Ruhe und würdige Haltung gewahrt bleibt. Gendarmeri­e und Schutzmann­schaft sind angewesen, die Ruhe und Ordnung aufrecht zu erhalten. Der Vollzugsau­sschuss des Arbeiter- und Soldaten-Rates…“.

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REPRO: SCHWEIZER Die Lindauer Revolution­sdemonstra­tion vom 9. November 1918 zwischen Marktplatz und Haus zum Baumgarten. Das Foto stammt aus der Sammlung Schweinber­ger.

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