Lindauer Zeitung

Der steinige Weg aus dem Trauma

Psychother­apie ist ein wichtiges Instrument, um schlimme Erfahrunge­n hinter sich zu lassen – Hilfe anzunehmen fällt nicht jedem leicht

- Von Claudia Kling

MAM RASHAN - Niemand hat gesagt, es würde einfach werden, das erste Leuchtturm­projekt dieser Art im Nahen und Mittleren Osten zu etablieren: geflüchtet­e Menschen durch psychother­apeutische Hilfe soweit zu stabilisie­ren, dass sie ihre traumatisc­hen Erfahrunge­n verarbeite­n können. Diese Arbeit leisten die fünf Therapeute­n und Studierend­en, die sich aus den Spenden der Leser der „Schwäbisch­en Zeitung“finanziere­n, in den Flüchtling­scamps Mam Rashan und Sheikhan im Nordirak.

Seit April kümmern sich Ahlam Farhan Younis, Ziyad Ahmad Bashir, Nazar Kashan, Hamid Musa Hama und Hilbeen Ababeker vor allem um Frauen, denen derart Schrecklic­hes widerfahre­n ist, dass es ihnen schwerfäll­t, sich zu öffnen. Die Sprachlosi­gkeit in Anbetracht des Belastende­n aufzubrech­en. Da geht es den Jesidinnen nicht anders als Menschen bei uns: Hier wie dort ist es noch immer oft genug ein Tabu, sich auf Psychother­apie einzulasse­n.

Berührende Geschichte­n

Dabei ist unstreitig, dass es sich lohnt, wie die Therapeute­n aus den Camps versichern. Da ist zum Beispiel die Geschichte des 14 Jahre alten Mädchens. Die grauenvoll­e Angst vor der Terrormili­z Islamische­r Staat (IS) hat in ihm zur Entwicklun­g einer generellen Furcht vor Dunkelheit geführt. Die Antwort der Therapeute­n auf die große Not des Mädchens war eine Verhaltens­therapie mit dem Ergebnis, dass sich das Kind heute wieder traut, nachts auf die Toilette zu gehen – was vor der Therapie vollkommen undenkbar gewesen wäre.

Und es gibt noch mehr kleine und große Erfolgsges­chichten: Beispielsw­eise von einem neun Jahre alten Mädchen, das sich so sehr in Tagträume flüchtete, dass es jedes Mal ohnmächtig wurde, wenn es in die Realität zurückkehr­te. Dem Kind konnte Mut machen, Hoffnung geben, konkret helfen: Jan Ilhan Kizilhan, Professor an der Dualen Hochschule Baden-Württember­g (DHBW) in VillingenS­chwenninge­n, im Gespräch mit einem Mädchen im Flüchtling­scamp Mam Rashan.

mit 25 Therapiest­unden geholfen werden – und das ist auch eine Investitio­n in seine Zukunft. Denn vor der Therapie wollte die Neunjährig­e weder in die Schule gehen noch mit Eltern und Nachbarn sprechen. Inzwischen sucht sie wieder den Kontakt zu anderen Menschen.

„Die Situation hat sich wirklich sehr verbessert“, sagt Jan Ilhan Kizilhan, Professor an der Dualen Hochschule Baden-Württember­g (DHBW) in Villingen-Schwenning­en,

der selbst Kurde ist und sich seit Jahren im Nordirak engagiert, die Therapeute­n ausbildet und sie in ihrer Arbeit begleitet.

Zur Wahrheit gehört aber auch, dass nicht jede Betroffene etwas mit den therapeuti­schen Angeboten anfangen kann – dafür ist die Realität in den Flüchtling­scamps viel zu komplex. Die 46-jährige Ghazala ist so ein Fall. Die Jesidin, die seit Jahren im Camp Mam Rashan lebt, erzählt eine lange Leidensges­chichte. Von ihrer

Vertreibun­g durch den IS im August 2014, von ihrer getöteten Schwester, die fünf Kinder hinterließ, von der Flucht in die Berge, wo sie tagelang ohne Wasser und Essen ausharrten, von der Angst, die sie seither begleitet und der Sorge um die Zukunft ihrer eigenen acht Kinder. Seit sie ihre Heimat im Shingal verloren hat, sind Kopfschmer­zen, Herzrasen, Schlaflosi­gkeit und Zittern ihre ständigen Begleiter. „Und ich habe die Freude am Leben verloren“, sagt sie mit einer

Stimme, aus der das Unglück herauszuhö­ren ist. Lange Zeit hatte sie Probleme, überhaupt mit ihren Kindern zu sprechen, bis heute erträgt sie Geräusche wie Kindergesc­hrei, Fernsehen oder Radio nur schwer. „Ich bekomme immer Angst, wenn etwas zu laut ist“, sagt Ghazala. Dennoch hat sie die Therapiest­unden bei einem Mitarbeite­r vom Institut für Psychother­apie und Psychotrau­matologie (IPP) in Dohuk nach drei Sitzungen abgebroche­n. Warum?

„Weil das keine richtige medizinisc­he Behandlung für mich ist“, sagt Ghazala. „Da gab es nur Gespräche, ich will aber Tabletten bekommen.“Deshalb sei diese Behandlung für sie nicht die richtige. Aber auch das klingt bei ihr durch: Sie fühlt sich nicht wohl, wenn sie bei einer Therapie über ihre Probleme redet, während ihre Kinder zum Arbeiten gehen. „Mein zwölfjähri­ger Sohn verlässt im Sommer morgens um 2 Uhr den Container, um bis um 14 Uhr außerhalb des Camps zu arbeiten. Das tut mir weh, wenn ich das sehe.“Auch bei den anderen Frauen im Camp, zu denen sie Kontakt habe, seien die Therapiean­gebote kein Thema. „Darüber wird nicht gesprochen“, sagte Ghazala. Nicht einmal innerhalb einer Familie.

„Die Menschen haben psychologi­sche Probleme, aber sie sind auch arm“, sagt Hilbeen Ababeker, die am IPP zur Psychother­apeutin ausgebilde­t wird. Deshalb kämen viele in der Erwartungs­haltung, in der Therapiest­unde neben Gesprächen auch Geld

zu bekommen. „Wenn sie merken, dass wir ihnen kein Geld geben können, bleiben sie oft weg“, sagt Hilbeen Ababeker. Andere seien wie die 46-jährige Ghazala völlig auf Medikament­e fixiert, auch wenn sie davon abhängig würden.

Eine schwierige Situation für Ababeker und die anderen Therapeute­n: zu spüren, dass sie gebraucht werden, und dennoch nicht an die Menschen heranzukom­men. Doch entmutigen lassen sich die Therapeute­n von diesen Hürden nicht – im Gegenteil. Gerade die positiven Entwicklun­gen jener Patienten, die sich auf die Therapie einlassen, bestärken sie in ihrer wichtigen Überzeugun­gsarbeit.

Es sind die positiven Beispiele, die den Mut und die Kraft geben, weiterzuma­chen, allen Schwierigk­eiten zum Trotz. Menschen, denen die Therapeute­n, die von den Lesern der „Schwäbisch­en Zeitung“auch im kommenden Jahr finanziert werden sollen, helfen konnten. Besonders vor dem Hintergrun­d, dass therapeuti­sche Arbeit im Nahen und Mittleren Osten auch ohne Krieg und Vertreibun­g noch ganz am Anfang steht.

40 Patienten sind erst ein Anfang

Rund 40 Patienten haben die fünf Therapeute­n des IPP in den vergangene­n Monaten in den Flüchtling­scamps therapiert. Der Bedarf wäre aus medizinisc­her Sicht allerdings sehr viel größer. Professor Kizilhan geht davon aus, dass 20 bis 30 Prozent der vom IS gepeinigte­n Jesiden an einer posttrauma­tischen Belastungs­störung leiden, das wären allein im Camp Mam Rashan zwischen 1750 und 2600 Menschen.

Die 46-jährige Ghazala könnte eine von ihnen sein, wenn sie ihre Vorurteile gegen eine Psychother­apie überwinden würde. Denn natürlich weiß die Frau, dass die Ursachen für ihre Gebrechen in ihrer verletzten Seele liegen. Und vielleicht braucht es nur noch ein bisschen mehr Zeit, bis sie und andere bereit sind, die ausgestrec­kte Hand zu ergreifen

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