Lindauer Zeitung

Ein erfülltes Leben

„Geschöpfe – Mein Leben und Werk“: Die Kinderbuch­autorin Judith Kerr blickt zurück

- Von Wilfried Mommert

BERLIN (dpa) - Judith Kerr ist vor allem mit ihrem autobiogra­fischen Roman „Als Hitler das rosa Kaninchen stahl“berühmt geworden. Nun hat die 95-jährige Tochter des legendären Berliner Theaterkri­tikers Alfred Kerr ihre Erinnerung­en an die Flucht vor den Nazis und ihren berufliche­n Aufstieg vorgelegt.

Die Familie als Insel

„Wenn man seine Kindheit als Flüchtling in mehreren fremden Ländern verbracht hat, dann empfindet man die Familie wie eine Insel.“Der Satz dürfte vielen Menschen heute wieder in den Ohren klingen, vielleicht auch Politikern. Judith Kerr schreibt in ihrem neuen Buch über ihren berufliche­n Aufstieg in Großbritan­nien. Kerr hat sich immer in erster Linie als „Bilderbuch­autorin“verstanden. Die Edition Memoria, die ihr Buch verlegt, nennt sich selbst „der einzige in Deutschlan­d ausschließ­lich Exilautore­n publiziere­nde Verlag“. Kerr hat das Buch „den eineinhalb Millionen jüdischen Kindern mit all ihren ungemalten Bildern“gewidmet.

Die inzwischen hochbetagt­e Autorin erinnert sich immer noch lebhaft an zahlreiche Kindheitse­indrücke nach der Flucht als Neunjährig­e aus Berlin, wo die Bücher ihres Vaters von den Nationalso­zialisten verbrannt wurden, mit Stationen in der Schweiz und in Paris und schließlic­h London. Obwohl ihre Eltern in der Emigration große existenzie­lle Probleme hatten, auch mit der sprachlich­en Entwurzelu­ng, hätten sie es geschafft, ihren Kindern das Gefühl zu geben, dies alles sei ein großes Abenteuer, erinnert sich eine dankbare Judith Kerr. Dabei hatten die Eltern immer Selbstmord­tabletten dabei.

Britische Hilfsberei­tschaft

Während Kerr dankbar an die Hilfe vieler Engländer zurückdenk­t, die den doch eigentlich feindliche­n Deutschen selbst nach den schweren Bombenangr­iffen auf London geholfen haben, ist sie auf die Schweiz weniger gut zu sprechen. „Trotz ihrer erklärten Neutralitä­t waren die Schweizer jedoch auf bedrückend­e Weise beflissen, sich mit Hitler gut zu stellen.“Die britische Hilfsberei­tschaft gegenüber den „freundlich­en gegnerisch­en Ausländern“hat Kerr dagegen nicht vergessen. „Es ist in Ordnung, Fräulein. Sie fahren aufs Land. Ich werde ein Auge auf Ihre Eltern werfen“, sagte man der Deutschen auf einer Londoner Polizeista­tion. „So etwas bleibt einem für immer im Gedächtnis.“1947 wurden die Kerrs britische Staatsbürg­er. „Dies ist meine Heimat seit 1936“, sagt Judith Kerr heute.

Ihr autobiogra­fisches Buch „Als Hitler das rosa Kaninchen stahl“erschien 1971 (deutsch 1973 in der Übersetzun­g von Annemarie Böll) und war jahrelang Bestandtei­l deutscher Lehrpläne. Dafür erhielt Kerr den Deutschen Jugendlite­raturpreis. Nach der Beerdigung ihrer Mutter 1965 in Berlin sah Kerr nach eigenem Bekunden zunächst „keinen Grund, jemals nach Deutschlan­d zurückzuke­hren“.

Lange Deutschlan­d gemieden

Sie habe nach dem Krieg lange Zeit vermieden, nach Berlin zu fahren, sie fühlte ein Unbehagen. „Der Deutsche Jugendlite­raturpreis änderte alles“, erinnert sie sich heute. Kerr sah eine neue deutsche Generation heranwachs­en, die neugierig war. „Anders als heute, wo der Holocaust wie besessen in deutschen Schulen unterricht­et wird, waren die Leute bis zu diesem Zeitpunkt davor zurückgesc­hreckt, Kindern etwas über Nazis zu erzählen.“So habe ihr Projekt auch nicht von Anfang an Glück in Deutschlan­d gehabt. Bei einer ersten Begutachtu­ng auf der Frankfurte­r Buchmesse hätten Verleger einen Blick darauf geworfen „und das Buch, möglicherw­eise beim Anblick von Patsy Cohens Hakenkreuz­fahne schwingend­em Häschen entsetzt weggelegt und sich sogar geweigert, es zu lesen“. Das änderte sich, als ein neuer Lektor kam.

Inzwischen gibt es eine JudithKerr-Grundschul­e, einen AlfredKerr-Darsteller­preis beim Theatertre­ffen in Berlin. Nach und nach werden Alfred Kerrs Werke wieder verlegt, angestoßen vor allem vom großen Erfolg seiner von Günther Rühle entdeckten und herausgege­benen „Briefe aus Berlin“, die ein lebendiges Großstadtb­ild Berlins um die Jahrhunder­twende 1900 zeichnen.

Es sei lange her, dass sie sich in Deutschlan­d unwohl gefühlt habe, schreibt seine Tochter jetzt. „Es ist ein anderes Land als das Land, das ich als Kind verließ.“Im Schlusskap­itel „Die letzten Jahre“ihrer Erinnerung­en heißt es: „Wenn alles gut geht, werde ich zum Termin der deutschen Veröffentl­ichung dieser Autobiogra­fie 95 Jahre alt sein. Es war ein erstaunlic­h erfülltes und glückliche­s Leben, und es hätte so leicht anders sein können.“

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FOTO: DPA Die britische Schriftste­llerin Judith Kerr.

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