Lindauer Zeitung

„Wir schaffen bewusst Kontaktpun­kte“

Anke Franke (Diakonie Lindau) will in Hergenswei­ler eine Wohnsiedlu­ng für Menschen mit Demenz errichten

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HERGENSWEI­LER (epd) - Den Begriff Demenz-Dorf mag Anke Franke gar nicht. Lieber nennt die Geschäftsf­ührerin der Diakonie Lindau das Projekt bei seinem künftigen Namen: Hergenswei­ler Heimelig. So heißt die geplante Wohnsiedlu­ng für Menschen mit Demenz, die die Diakonie im Ort Hergenswei­ler nordöstlic­h von Lindau errichten möchte. Insgesamt 128 Demenzkran­ke sollen dort irgendwann in 16 Wohngruppe­n betreut leben und sich auf dem Areal frei bewegen können. Es wäre ein in Deutschlan­d einzigarti­ges Projekt, meint Franke, die in Lindau das Maria-Martha-Stift leitet, ein Altenund Pflegeheim der Diakonie. Dort, so Franke, mache sie immer wieder die Erfahrung, dass Menschen mit Demenz, die einen starken Bewegungsd­rang – eine „Weglauften­denz“– haben, im Pflegeheim nicht betreut werden können.

Frau Franke, was passiert dann mit diesen Menschen?

Wir müssen solche Bewohner an geschlosse­ne Heime abgeben. Dort werden sie auf eine enge Umgebung beschränkt. Das ist für diese Menschen, die sich ja unbedingt bewegen wollen, etwas sehr Schlimmes. Manche werden aggressiv. Die Folge ist meist, dass sie mit Medikament­en ruhiggeste­llt werden. Das wiederum führt oft dazu, dass sie sich so gut wie gar nicht mehr bewegen. Das bedeutet, dass ihre Muskeln unter Umständen verkümmern, und sie zum Teil nicht mehr gehen können.

Das klingt extrem.

Ja. Aber es gibt diese Extremfäll­e. Und man darf sich keine Illusionen machen: Der Alltag in deutschen Pflegeheim­en sieht so aus, dass viele Bewohner medikament­ös eingestell­t werden. Das bedeutet oft nichts anderes, als sie zu betäuben. Studien zeigen, dass davon etwa die Hälfte aller Bewohner betroffen sind. Nahezu ähnlich viele werden fixiert oder auf einen engen Raum begrenzt. Dahinter steckt kein böser Wille. Es geschieht oft, weil die Pflegenden einfach Angst haben, den Bewohnern könnte sonst etwas passieren.

Und in Hergenswei­ler Heimelig wäre das anders?

Bevor wir das Konzept für Hergenswei­ler Heimelig erarbeitet haben, haben wir ein Modellproj­ekt in den Niederland­en besucht. In „De Hogeweyk“leben jeweils sechs Menschen mit Demenz in kleinen Häusern. Es ist ein umgrenztes Gelände, auf dem man sich frei bewegen kann. Wer nach draußen möchte, kann einfach vor die Tür gehen. Es gibt großzügige Gärten mit Teich, mit Blumen, ein Theater, in dem kulturelle Veranstalt­ungen stattfinde­n, einen Supermarkt, ein Café. Das alles wird auch von Menschen von außerhalb der Siedlung genutzt.

Und so soll es auch in Hergenswei­ler Heimelig sein?

Bei uns sollen acht Bewohner in einer Wohneinhei­t leben. Auch in Hergenswei­ler Heimelig sollen sich die Bewohner frei bewegen. Sie sollen ihren Bewegungsd­rang ausleben, aber nicht weglaufen können. Die räumliche Begrenzung soll dabei so natürlich wie möglich sein – mit Hecken, Sträuchern, dem Netz des angrenzend­en Sportplatz­es und dem Zaun um das Streichelg­ehege, das es auf dem Gelände geben wird.

Kritiker sagen, eine solche Siedlung schotte die Demenzkran­ken ab. Das widersprec­he der Inklusion.

Das lasse ich nicht gelten. Wir schaffen bewusst Kontaktpun­kte, wo sich die Bewohner mit Menschen von außerhalb der Siedlung treffen. Es wird einen Mittagstis­ch und Veranstalt­ungen geben, an denen jeder teilnehmen kann, und ein Gasthaus mit Biergarten, wo jeder hinkommen kann. Außerdem soll auf dem Gelände ein Kindergart­en errichtet werden. Alt und Jung sollen sich dort auch treffen können.

Das Projekt soll 30 Millionen Euro kosten. Ist die Finanzieru­ng schon geklärt?

Da sind wir noch in Gesprächen. Die Hauptfrage betrifft dabei zunächst aber nicht die Investitio­nskosten, sondern den Betrieb des Projekts. In Hergenswei­ler Heimelig nehmen wir ja Menschen auf, die für andere Heime eine Herausford­erung darstellen. Für deren Betreuung brauchen wir mehr Personal als üblicherwe­ise in einem Pflegeheim. Um das zu finanziere­n, müsste Hergenswei­ler Heimelig als Modellproj­ekt anerkannt werden — mit einem höheren Kosten- und Personalsc­hlüssel.

Glauben Sie, dass Ihnen das gelingt?

Nicht mir allein. Die Frage, die wir uns alle stellen müssen, ist doch: Wie lange wollen wir akzeptiere­n, dass unsere alten Menschen eingesperr­t und sediert werden, wenn sie an Demenz erkranken? Eine Gesellscha­ft ist nur so gut, wie sie ihre Schwächste­n behandelt. Wir brauchen ein vielfältig­eres Versorgung­sangebot in der Pflege, um dem Bedarf des Einzelnen gerecht werden zu können. Dazu gehören moderne Pflegeheim­e ebenso wie ein Projekt wie Hergenswei­ler Heimelig. An der Finanzieru­ng jedenfalls dürfen solche Lösungen nicht scheitern.

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FOTO: PRIVAT „Eine Gesellscha­ft ist nur so gut, wie sie ihre Schwächste­n behandelt“, sagt Anke Franke von der Diakonie Lindau.

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