Lindauer Zeitung

Stigmatisi­erungen können jeden treffen

Landesthea­ter Tübingen bringt das klassische Schülerstü­ck „Andorra“auf die Bühne

- Von Tanja Schittenhe­lm

LINDAU - Im Rahmen des Jungen Theaters war am Donnerstag das Schauspiel „Andorra“von Max Frisch im Lindauer Stadttheat­er zu sehen. Unter der Regie von Fanny Brunner brachte das Junge Landesthea­ter Tübingen (LTT) ein Stück auf die Bühne, das als eindringli­che Parabel über Rassismus und Ausgrenzun­g bis heute nichts an Aktualität verloren hat.

Die bühnengere­chte Einführung zum Thema Antisemiti­smus, Vorurteil und Identitäts­findung ist ein Stück, gespielt in der fiktiven Kleinstadt „Andorra“, das vorführt, wie der vermeintli­ch jüdische Pflegesohn Andri von seinem Umfeld solange antisemiti­sch behandelt wird, bis er sich selbst als „typischer Jude“begreift.

Was ihm zum Verhängnis wird, als die Soldaten des befeindete­n Nachbarsta­ates – die „Schwarzen“– Andorra überfallen und Andri bei einer „Judenschau“zur Liquidatio­n abführen.

Dabei hat Andris Vater das Gerücht vom geretteten jüdischen Kind nur in die Welt gesetzt, um zu vertuschen, dass Andri sein uneheliche­s Kind aus der Affäre mit einer Frau aus dem bösen Nachbarlan­d ist.

Auf der zunächst leeren Bühne tritt Max Frisch persönlich auf, mit Pfeife, Trenchcoat und Schweizer Dialekt (Elias Popp), und diskutiert mit einem Lehrer, einer Lektorin und einem Dramaturge­n, ob man die Parabelhaf­tigkeit der „ollen Kamelle“nicht noch verstärken könnte, wenn man den Begriff „Jude“beispielsw­eise durch den Begriff „Schwabe“ersetzen würde. Man kommt aber wieder davon ab, schließlic­h ist Antisemiti­smus nach wie vor ein sehr aktuelles Thema.

Die LTT-Werkstatt-Bühne von Daniel Angermayr ist in SchwarzWei­ß getaucht: Das friedliche, freiheitli­che und liberale Vorbild-Andorra präsentier­t sich in unschuldig­em Weiß, die bösen Nachbarn sind die „Schwarzen“. Um die Bühne herum steht in großen Lettern: „Einer von Euch, unter Euch, mit Euch.“

Austauschb­are Figuren

Mit vier neuen Schauspiel­ern in dieser Spielzeit und unter der neuen Jugendthea­ter-Leiterin Oda Zuschneid, wird in wechselnde­n Szenen und Bildern Andris Geschichte erzählt: Wie er wird, wie die anderen ihn haben wollen. Wie er vom Amtsarzt, Priester, vom Soldaten, von den Bürgern und Handwerker­n immer wieder auf mehr oder weniger subtile Art ausgegrenz­t und antisemiti­sch behandelt wird. „Ich habe nichts gegen das Volk... aber... es muss auch mal vergessen werden!“

Aber weil die Figuren austauschb­ar sind, weil hier jeder zum Opfer und zum Täter werden kann, weil sich keiner von „uns“vom Rassismus frei machen kann, sind auch die Figuren auf der Bühne austauschb­ar. „Das Böse: Alle haben es in sich, keiner will es haben“, wird als Refrain wiederholt. So lässt Regisseuri­n Fanny Brunner alle Figuren als schwarze Pappaufste­ller auftreten, die in ihren jeweiligen Szenen umgedreht werden und ein Gesicht bekommen, während die Schauspiel­er von Szene zu Szene ihre Rolle wechseln. Jeder spielt mal den Vater, Andri, Bürger, Pfarrer oder Soldat. Eine große Herausford­erung für Zuschauer und Ensemble. Zum Beispiel zeigt sich Jonas Breitstadt unter anderem als (sexuell) gewalttäti­ger, dauerrülps­ender Soldat oder als scheinheil­iger Priester, Rupert Hausner als von der Situation völlig überforder­ter Vater, Insa Jebens als antisemiti­scher Amtsarzt, Elias Popp als verunsiche­rter, verletzter und trotziger Andri und Kristin Scheinhütt­e als dessen Freundin und Schwester Barblin.

Dieses permanente Wechselspi­el, mit Sicherheit eine sportliche Angelegenh­eit, nicht nur wegen der einheitlic­hen Adidas-Outfits der Figuren.

Um die Spannung hochzuhalt­en, wechselte das Stück immer wieder zwischen Erzählthea­ter, dialogisch­en Szenen und Pantomime und setzte dabei des öfteren maschinell erzeugte Geräusche und Musik (Alex Konrad) ein.

Auch Gesang ist mit im Spiel und so werden die rassistisc­hen Witze einfach mal gesungen.

Am Ende weisen plakative Schilder auf den Umstand hin, dass Stigmatisi­erungen jeden treffen können, auch Moslems, Sachsen, Vegetarier, Roma, Rentner oder Homosexuel­le: „Man wird das Orakel nicht los, bis man es erfüllt.“

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FOTO: TANJA SCHITTENHE­LM Vorurteile in Schwarz-Weiß.

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