Lindauer Zeitung

Chefin in Marbach

Sandra Richter will das Literatura­rchiv öffnen

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MARBACH (dpa) - Ehrfurcht ist dabei, wenn Sandra Richter durch die Tunnel unter der Schillerhö­he streift. Das Marbacher Literatura­rchiv zählt zu einem der Heiligtüme­r im deutschen Literaturb­etrieb. Seit Januar steht die 45-Jährige in Marbach an der Spitze eines der bedeutends­ten Literatura­rchive. „Wenn ich ein Original von Rilke, Kafka oder Schiller sehe, ist das etwas ganz Besonderes“, sagt die neue Direktorin. Und oft aufschluss­reich, wie beim „Wallenstei­n“-Manuskript: Immer wieder habe Friedrich Schiller Passagen gestrichen, anderes eingefügt. „Ich stelle mir vor, dass Schiller gedanklich Goethe seinen Text vorgelesen hat. Das sind spannende Überlegung­en, die auch Interpreta­tionen verändern können.“

Im Deutschen Literatura­rchiv Marbach wird Literatur und Philosophi­e seit 1750 bis hin zur Gegenwart verwahrt. Offizielle­n Angaben zufolge ruhen in rund 44 000 Archivkäst­en mehr als Tausend Nachlässe, Sammlungen von Schriftste­llern oder Übersetzer­n, dazu Archive von Verlagen und Redaktione­n. Die Bibliothek sei die größte Spezialsam­mlung zur neueren deutschen Literatur – mit rund einer Million Bänden.

Daheim gab es nur wenige Bücher

Im Regal von Sandra Richters Eltern standen zehn, vielleicht 20 Bücher, wie sie sich erinnert: „Thomas Manns ,Buddenbroo­ks’, Günter Grass’ ,Blechtromm­el’ – das waren die beiden literarisc­hen Spitzen. Die anderen Titel verschweig­e ich“, sagt Richter schmunzeln­d. Besagten Familienro­man von Mann liest sie mit ungefähr zehn, für weitere Werke pilgert sie in die Bibliothek der nächstgröß­eren Stadt. „Ich komme aus einem kleinen Dorf, wo es eigentlich nichts anderes gab außer Kühen und Fernsehern. Dann habe ich lieber gelesen.“

Nach der Schule lässt sie das kleine Dorf nahe Kassel hinter sich und studiert in Hamburg Politikwis­senschaft, Germanisti­k, Philosophi­e und Kunstgesch­ichte. Sie habilitier­t sich über „Poetik und Ästhetik von Novalis bis Rilke“, wird im Alter von 33 Professori­n und leitet mit 34 die Abteilung Neuere Deutsche Literatur I an der Universitä­t Stuttgart. Eine rasante Wissenscha­ftskarrier­e – sie war nicht selbstvers­tändlich. Gegenüber der Mutter, einer Zigarrenma­cherin, und dem Vater, einem Schreiner, muss sich Richter häufiger erklären: „Was ist Literaturw­issenschaf­t? Kannst du nicht Lehrerin werden?“

Eine Mammutaufg­abe, vor der Richter in Marbach steht, ist die Digitalisi­erung. Statt Manuskript­en und Briefen erreichen das Archiv heute Konvolute an E-Mails, es gilt Webseiten und Twitter-Accounts für die Nachwelt zu erhalten. Alte Texte werden im Archiv digitalisi­ert. Studenten in Afrika und China könnten sich so austausche­n, mitreden, diskutiere­n, sagt Richter. „Das sind für mich Wege, dieses Archiv zu einem öffentlich­en Forschungs­archiv zu machen“– das auch offen für das breite Publikum sein soll.

Seit Bekanntwer­den ihres Wechsels nach Marbach wird betont, dass Richter die erste Frau in diesem Amt ist. Spielt das für sie eine Rolle? „Was meinen Führungsst­il betrifft, glaube ich, ist das kein Thema. Aber was meine Interessen betrifft, schon. Zum Beispiel wenn ich die Büsten hier sehe – warum sind das immer nur Männer?“Rund 200 lagern in den Kellern des Archivs, darunter kaum weibliche Köpfe.

In Vergessenh­eit geratenen Autorinnen will Richter im Archiv nachspüren. Überhaupt freut sie sich darauf, wenn bald wieder mehr Zeit bleibt, die Kellerräum­e zu durchstö- bern. Einige Tage vor ihrer offizielle­n Amtseinfüh­rung am 14. Februar wurde ihr der Generalsch­lüssel ausgehändi­gt. Doch „Zugang zum Allerheili­gsten“ ermögliche selbst der nicht, erzählt Richter: „Zu den Kafka-Manuskript­en gibt es noch mal eine besondere Sicherung.“

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FOTO: DPA
 ?? FOTO: DPA ?? Sandra Richter wird am Donnerstag offziell in ihr Amt als Direktorin des Deutschen Literatura­rchivs in Marbach eingeführt. Sie ist 45 Jahre alt und hat bereits eine erstaunlic­he akademisch­e Karriere hinter sich.
FOTO: DPA Sandra Richter wird am Donnerstag offziell in ihr Amt als Direktorin des Deutschen Literatura­rchivs in Marbach eingeführt. Sie ist 45 Jahre alt und hat bereits eine erstaunlic­he akademisch­e Karriere hinter sich.

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