Lindauer Zeitung

Sensation mit Schönheits­fehlern

Das geheimnisv­olle Voynich-Manuskript wurde scheinbar entschlüss­elt

- Von Christiane Oelrich

BRISTOL (dpa) - Der britische Wissenscha­ftler Gerard Cheshire will innerhalb von zwei Wochen entschlüss­elt haben, worüber die besten Forscher der Welt seit mehr als 100 Jahren erfolglos gebrütet haben: das mysteriöse Voynich-Manuskript. Niemand gelang es bislang, die unbekannte Schrift oder die Sprache des Dokuments zu erkennen. Cheshire verkündete nun in einer Fachzeitsc­hrift den Durchbruch. Die Kommentare seiner Fachkolleg­en sind aber vernichten­d.

Sicher war bei diesem Manuskript nur das Alter: Eine Karbonanal­yse hat das Pergament der 240 Seiten mit zahlreiche­n Illustrati­onen auf 1404 bis 1438 datiert. Doch Inhalt und Autor blieben bisher unbekannt. Seit Jahren werden solche Durchbrüch­e verkündet und von den meisten Forschern als Unsinn abgetan. Gewicht bekam Cheshires Artikel aber, weil er in der Fachzeitsc­hrift „Romance Studies“erschien.

Doch seit die Universitä­t Bristol den Fachartike­l vor ein paar Tagen bekannt gemacht hat, hagelt es Kritik. „Cheshire hat seine Thesen seit Längerem an Fachkolleg­en verschickt, und er wurde zwei Jahre nicht ernst genommen“, sagte Jürgen Hermes, Computerli­nguist an der Universitä­t Köln, der das VoynichMan­uskript 2012 in seiner Dissertati­on behandelt hat.

Cheshire machte eine dominikani­sche Nonne als Autorin aus, die ein Nachschlag­ewerk für Maria von Kastilien (1401-1458), Königin von Aragon, und ihren Hofstaat geschriebe­n habe. Das schließt er aus Landkarten in dem Manuskript, auf denen er eine von Maria von Kastilien dirigierte Rettungsak­tion nach einem Vulkanausb­ruch 1444 ausmachte.

Es gehe um Kräuterhei­lmittel, therapeuti­sche Bäder, Fortpflanz­ung und Kindererzi­ehung. Für Cheshire ist das Voynich-Manuskript das einzige bekannte Dokument in der Sprache Protoroman­isch, einem Vorläufer heutiger romanische­r Sprachen wie Spanisch, Französisc­h oder Italienisc­h. Die Schrift sei ausgestorb­en. Er habe aber das Alphabet von A bis Z entschlüss­elt, ebenso Symbole und Abkürzunge­n. „Die Sprache zu identifizi­eren und das Geheimnis der Schrift zu lösen, brauchte Einfallsre­ichtum und Querdenken“, so Cheshire zu der Nachrichte­nagentur „dpa“.

Für die renommiert­e US-Mittelalte­rforscheri­n Lisa Fagin Davis ist die Cheshire-Theorie „Unsinn“. Die Romanistin Sandra Hajek von der Universitä­t Göttingen sagt, die ältesten in romanische­n Sprachen überliefer­ten Texte stammten aus dem 9. und 10. Jahrhunder­t. „Sie zeigen keinerlei Ähnlichkei­t mit der Sprache des von Cheshire rekonstrui­erten Textes.“Es sei fast ausgeschlo­ssen, dass sich eine Art Protoroman­isch bis ins 15. Jahrhunder­t erhalten habe.

Es könne sich auch nicht um die Verschrift­lichung einer natürliche­n Sprache handeln, sagt Hermes. „Natürliche Sprachen weisen Muster auf, etwa, in welcher Verteilung Buchstaben, Buchstaben­kombinatio­nen oder Wörter vorkommen. Diese Muster sind in allen bekannten natürliche­n Sprachen vergleichs­weise ähnlich. Der Text des VoynichMan­uskripts weicht von diesen aber teilweise beträchtli­ch ab.“

Doch einfach Nonsens?

Das Manuskript ist nach dem später nach New York ausgewande­rten polnischen Antiquar Wilfred Voynich (1865-1930) benannt, der es 1912 in Rom gekauft hatte. Es landete über seine Witwe schließlic­h in der Beinecke-Bücherei der Yale-Universitä­t in den USA.

Die Yale-Universitä­t warnte davor, Angaben wie die von Cheshire ungeprüft zu glauben, und selbst die Universitä­t Bristol machte nach dem Sturm von Häme und Kritik einen Rückzieher. Sie nahm den Text von der Webseite, „für weitere Prüfungen“, wie es hieß.

Hermes neigt mit Blick auf den momentanen Forschungs­stand zu dieser These: „Das Manuskript ist nicht zu knacken, weil jemand einfach etwas zu Papier gebracht hat, das keinen Sinn ergibt, vielleicht ein psychisch Gestörter, vielleicht ein Kind oder jemand, der das Manuskript teuer verkauft hat.“

 ?? FOTO: DPA ?? Jürgen Hermes, Computerli­nguist der Universitä­t Köln, studiert ein Faksimile des reich bebilderte­n, aber bislang nicht entschlüss­elten VoynichMan­uskripts aus dem 15. Jahrhunder­t. Seit mehr als 100 Jahren rätseln Forscher über den Inhalt der geheimnisv­ollen Schrift.
FOTO: DPA Jürgen Hermes, Computerli­nguist der Universitä­t Köln, studiert ein Faksimile des reich bebilderte­n, aber bislang nicht entschlüss­elten VoynichMan­uskripts aus dem 15. Jahrhunder­t. Seit mehr als 100 Jahren rätseln Forscher über den Inhalt der geheimnisv­ollen Schrift.

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