Wenn die Krücke zur Waffe wird
Wer hat mit der Krücke zugeschlagen? Bruder belastet Angeklagten schwer.
LINDAU Was an Silvester auf dem Kopernikusplatz passierte, blieb auch am ersten Verhandlungstag vor dem Amtsgericht Lindau so nebulös wie die rauchgeschwängerte Nacht. Fest steht, dass dort kurz nach Mitternacht mehrere Frauen und Männer beim Abschießen von Feuerwerkskörpern in Streit geraten sind. Fest steht auch, dass im Verlauf des Tumults ein 25jähriger Mann einen Schlag auf den Kopf bekommen hat und wegen einer Platzwunde im Krankenhaus behandelt werden musste. Die Tatwaffe soll eine Krücke gewesen sein. Doch der 48Jährige Besitzer der Krücke, der sich nun wegen gefährlicher Körperverletzung verantworten musste, wies jede Schuld von sich. Da ihn auch das Opfer nicht identifizieren konnte, schien alles auf einen Freispruch hinauszulaufen. Bis sein Bruder aussagte.
Die beiden Brüder haben schon seit längerer Zeit ein angespanntes Verhältnis zueinander. Der Vorfall an Silvester und der anstehende Prozess gegen den älteren Bruder verschärfte die Fronten zusätzlich. Wie am Rande der Verhandlung deutlich wurde, gehen die beiden inzwischen anwaltlich gegeneinander vor: Der eine erzielte ein Näherungsverbot, der andere konterte mit einer Verleumdungsklage. „Einen zweiten Kaffee mit dem zu trinken, war immer zu viel“, schildert der jüngere Bruder, der als Zeuge geladen war, ihr Verhältnis zum Tatzeitpunkt.
Trotzdem hatten sich die Familien auf Wunsch der Mutter in der Silvesternacht in der Wohnung des jüngeren Bruders in Zech getroffen, berichtet der Angeklagte. Da er ein gebrochenes Bein und daher einen Gipsverband hatte, blieb er auch um Mitternacht in dessen Wohnung. Erst als Kinder weinend von einer Schlägerei berichteten, sei er mit Hilfe seiner Frau und Tochter an den Krücken vors Haus gegangen. Dort habe er gesehen, dass sowohl Frauen als auch Männer aufeinander eingeschlagen haben. Wie viele an dem Gerangel beteiligt waren und worum es in dem Streit gegangen sei, konnte er vor Gericht nicht sagen. Nur soviel: Ein Grund für die Schlägerei schien ein Streit seines Bruders mit dem späteren Geschädigten gewesen zu sein.
Um zu fragen, was hier los sei, habe er, so berichtet der Angeklagte weiter, seinen Bruder mit der Krücke an die Schulter gestoßen. Dieser habe ihm daraufhin die Krücke weggenommen, weshalb er zu Boden gestürzt sei. Er sei dann mit Hilfe der anderen Krücke und seiner Frau zum Auto gehumpelt. Die fehlende Krücke habe seine Tochter später vor der Türe gefunden. Den Vorwurf, damit jemanden geschlagen zu haben, wies der Angeklagte von sich. Dazu sei er aufgrund seines Bruches und der starken Schmerzen gar nicht in der Lage gewesen. „Ohne meine Frau konnte ich nicht mal auf die Toilette gehen.“Diese Version bestätigten seine Frau und sein Schwiegersohn.
„Gezielte Schläge“
Das Opfer, das als Zeuge vor Gericht aussagte, sprach von „gezielten Schlägen“. Im Zuge des Streites habe ihn der Bruder des Angeklagten gegen die Hauswand gedrückt. Dann, so erinnert er sich, sei ein „älterer Mann“mit Krücken aus der Wohnung gekommen und habe mehrfach zugeschlagen – und zwar mit beiden Gehhilfen.
Allerdings konnte der Zeuge den Angeklagten, wie schon bei der polizeilichen Vernehmung, nicht identifizieren. Er wusste nur, dass der Angreifer ein weißes Hemd getragen hatte. Das wiederum sprach gegen den Mann auf der Anklagebank, wie eine Handyaufnahme aus besagter Nacht bewies.
Richter Moritz von Engel signalisierte bereits, dass bisher alles auf einen Freispruch hindeute, obwohl noch eine Reihe von Zeugen geladen war. Nach der Aussage des Bruders änderte sich die Sachlage. Denn der belastete den Angeklagten mit neuen Details, die auch Richter, Verteidigerin und Staatsanwältin überraschten. Demnach habe der Angeklagte in jener Nacht zunächst einen alten Mann zweimal mit der Krücke auf den Rücken geschlagen. Erst als Frau und Tochter des Angeklagten einschritten, sei der Angeklagte auf den Boden gefallen. Der Bruder räumte ein, etwas später das Opfer an die Wand gedrückt zu haben. Während dieser Aktion habe es wieder Schläge mit der Krücke gesetzt. Diese trafen den Kopf des Opfers und seinen Arm, der einen Bluterguss aufwies.
„Ich wollte heute die ganze Sache ergänzen, wie es war“, erklärte er die überraschenden Details, die bislang in keiner Aussage zu finden waren. Auf die Frage der Verteidigerin, warum sein älterer Bruder einfach so zuschlagen sollte, antwortete er: „Es ist so ein Typ.“Um weitere Zeugen zu hören, wird die Verhandlung in zwei Wochen fortgesetzt.