Lindauer Zeitung

Man fühlt sich bestens unterhalte­n

Lesenswert­es Sachbuch über BadenWürtt­emberg als Einwanderu­ngsland

- Von Alfredo Märker

Fast jeder dritte BadenWürtt­emberger weist einen Migrations­hintergrun­d auf. Das Land im Südwesten liegt mitten im Herzen Europas, ist wirtschaft­lich stark und zieht Menschen an. Aber wer hätte gedacht, dass BadenWürtt­emberg nach Zypern und Liechtenst­ein sogar den höchsten Ausländera­nteil in der Europäisch­en Union ausweist? Oder wer hätte vermutet, dass alleine in Stuttgart heute 120 Sprachen von Menschen aus rund 180 Nationen gesprochen werden. Es gibt also gute Gründe, sich die Einwanderu­ngsgeschic­hte BadenWürtt­embergs genauer anzuschaue­n und der Frage nachzugehe­n, wer all die Menschen sind, die in den letzten Jahren, Jahrzehnte­n und Jahrhunder­ten gekommen sind, und wie es ihnen und dem Land BadenWürtt­emberg dabei ergangen ist.

Karl Heinz MeierBraun und Reinhold Weber haben dies nun in einem 190seitige­n, lesenswert­en Buch getan und damit auch „einen Beitrag zur Erinnerung­skultur an unsere Einwanderu­ngsgesells­chaft“geschriebe­n, wie sie im Vorwort unterstrei­chen. MeierBraun ist Journalist, war langjährig­er Ausländerb­eauftragte­r beim SWR und gilt als einer der Experten in Deutschlan­d zum Thema Migration und Flucht. Sein Buch „Die 101 wichtigste­n Fragen: Einwanderu­ng und Asyl“war ein Bestseller. Gemeinsam mit seinem CoAutor, dem Historiker Reinhold Weber von der Landeszent­rale für Politische Bildung, ist MeierBraun im Rat für Migration aktiv. Beide lehren außerdem an der Universitä­t Tübingen.

„Ein Koffer voll Hoffnung“haben die zwei Migrations­wissenscha­ftler nun ihr aktuelles Werk genannt. BadenWürtt­emberg, so zeigen sie, ist immer schon Ort der Ankunft und des Bleibens gewesen, aber auch des Fortwander­ns. „Flucht, Vertreibun­g und Asyl“werden im ersten von drei Hauptkapit­eln umfassend behandelt: Vietnamesi­sche BoatPeople, Bürgerkrie­gsflüchtli­nge, alte und neue Asyldebatt­en, Sinti und Roma, Spätaussie­dler, jüdische Kontingent­flüchtling­e oder auch Glaubensfl­üchtlinge früherer Zeit wie Hugenotten und Waldenser werden besprochen, mit Zahlen und Fakten unterlegt. Ein zweites Großkapite­l beschreibt die Arbeitsmig­ration nach BadenWürtt­emberg, von den Transalpin­i über die Gastarbeit­erpolitik bis zur heutigen berufsbedi­ngten Wanderung. Ein drittes Kapitel befasst sich schließlic­h mit den Erfolgen und Problemen der Integratio­n. Schwierigk­eiten werden also nicht verschwieg­en.

Fakten treffen auf Anekdoten

Das Buch lebt von zahlreiche­n Bildern, eingefloch­tenen Redefragme­nten, zeitgenöss­ischen Zeitungsar­tikeln, Anekdoten, mithin sogar skurrilen Geschichte­n. So präsentier­en die Autoren auch zahlreiche Verlautbar­ungen und interne Amtspapier­e, einiges davon bislang unveröffen­tlicht.

„Der Italiener,“so erfahren wir aus einer Pressemitt­eilung des Landesarbe­itsamtes BadenWürtt­emberg von 1960, „liebt im allgemeine­n keine flüssigen oder dünnen Soßen, insbesonde­re keine Mehlsoßen. Zu Teigwaren, die nicht zu weichgekoc­ht werden sollen, gibt man Tomatensoß­e.“Aus heutiger Zeit mag man schmunzeln, und doch zeigt sich im Buch, das Migration immer auch Herausford­erung gewesen und oft sogar auf erbitterte Gegnerscha­ft getroffen ist. Und so fühlt man sich beim Lesen des Buchs nicht nur informiert, sondern auch bestens unterhalte­n. Stellenwei­se hat man den Eindruck, als würde man im Drehbuch des Erfolgsfil­ms „Maria, ihm schmeckt's nicht“schmökern.

Ein lohnendes Sachbuch, das eine Lücke in der deutschen Literatur rund um Asyl und Migration füllt und zugleich eine uralte Erkenntnis wiedergibt. Menschen wanderten schon immer. Aus den verschiede­nsten Motiven, Flucht vor Verfolgung, um zu arbeiten und der Liebe wegen – auch und besonders nach BadenWürtt­emberg. Darin könnte heute die Stärke dieses wunderbare­n Bundesland­s liegen.

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FOTO: BERNADINO DI CROCE Junge Italiener vor einer Eisdiele in VillingenS­chwenninge­n, aufgenomme­n 1962.

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