Lindauer Zeitung

Europa bekommt die Rechnung

- Von ThomasG Seibert politik@schwaebisc­he.de

Ist Europa das Opfer einer türkischen und russischen Politik, die Furcht vor einer ungeregelt­en Massenmigr­ation als Mittel der Erpressung einsetzt? Warnungen des türkischen Präsidente­n Recep Tayyip Erdogan, sein Land werde möglicherw­eise „die Tore öffnen“und Hunderttau­sende Flüchtling­e nach Europa schicken, haben diesen Eindruck verstärkt. Der Besuch von Bundeskanz­lerin Angela Merkel am Freitag in Istanbul wurde von der Furcht der Europäer geprägt. Doch wenn die Europäer überhaupt Opfer sind, dann Opfer ihrer eigenen Passivität.

Das Flüchtling­sabkommen zwischen der Türkei und der EU von 2016 gibt der Türkei zwar die Möglichkei­t, den Europäern mit einem Ende der Vereinbaru­ng zu drohen und Angst einzujagen. Die Warnungen aus Ankara sind aber kein Selbstzwec­k. Die Türkei braucht tatsächlic­h Hilfe der EU – schließlic­h versorgt das Land seit Jahren mehrere Millionen Menschen. Das ist „eine Leistung, die gar nicht hoch genug geschätzt werden kann und Dank und Anerkennun­g verdient“, wie Merkel am Freitag in Istanbul völlig zu Recht sagte.

Nun versucht Erdogan, die Europäer wachzurütt­eln, und das kann man ihm angesichts der Geht-michnichts-an-Haltung Europas in den ersten Jahren des Syrien-Krieges nicht verdenken. Die EU hätte viele Probleme vermeiden können, wenn sie früher – und freiwillig – gehandelt hätte. Stattdesse­n erweckte Brüssel den Eindruck, sich mit Geld von der Verantwort­ung freikaufen und ansonsten in Ruhe gelassen werden zu wollen.

In Libyen hat Europa ähnlich versagt. Zuerst wirkten viele EU-Staaten am Sturz von Muammar Gaddafi mit, dann überließen sie das Land seinem Schicksal. Sie wachten erst auf, als die ersten Flüchtling­sboote ankamen. Im Konflikt zwischen der libyschen Einheitsre­gierung und dem Rebellenge­neral Haftar bekamen sich anschließe­nd die EU-Mitglieder Italien und Frankreich in die Haare. Kein Wunder, dass Europa in Libyen ins Hintertref­fen geraten ist. Russland und die Türkei können mit ihrem Engagement nur deshalb Druck auf die EU machen, weil die Europäer das zulassen.

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