Europa bekommt die Rechnung
Ist Europa das Opfer einer türkischen und russischen Politik, die Furcht vor einer ungeregelten Massenmigration als Mittel der Erpressung einsetzt? Warnungen des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan, sein Land werde möglicherweise „die Tore öffnen“und Hunderttausende Flüchtlinge nach Europa schicken, haben diesen Eindruck verstärkt. Der Besuch von Bundeskanzlerin Angela Merkel am Freitag in Istanbul wurde von der Furcht der Europäer geprägt. Doch wenn die Europäer überhaupt Opfer sind, dann Opfer ihrer eigenen Passivität.
Das Flüchtlingsabkommen zwischen der Türkei und der EU von 2016 gibt der Türkei zwar die Möglichkeit, den Europäern mit einem Ende der Vereinbarung zu drohen und Angst einzujagen. Die Warnungen aus Ankara sind aber kein Selbstzweck. Die Türkei braucht tatsächlich Hilfe der EU – schließlich versorgt das Land seit Jahren mehrere Millionen Menschen. Das ist „eine Leistung, die gar nicht hoch genug geschätzt werden kann und Dank und Anerkennung verdient“, wie Merkel am Freitag in Istanbul völlig zu Recht sagte.
Nun versucht Erdogan, die Europäer wachzurütteln, und das kann man ihm angesichts der Geht-michnichts-an-Haltung Europas in den ersten Jahren des Syrien-Krieges nicht verdenken. Die EU hätte viele Probleme vermeiden können, wenn sie früher – und freiwillig – gehandelt hätte. Stattdessen erweckte Brüssel den Eindruck, sich mit Geld von der Verantwortung freikaufen und ansonsten in Ruhe gelassen werden zu wollen.
In Libyen hat Europa ähnlich versagt. Zuerst wirkten viele EU-Staaten am Sturz von Muammar Gaddafi mit, dann überließen sie das Land seinem Schicksal. Sie wachten erst auf, als die ersten Flüchtlingsboote ankamen. Im Konflikt zwischen der libyschen Einheitsregierung und dem Rebellengeneral Haftar bekamen sich anschließend die EU-Mitglieder Italien und Frankreich in die Haare. Kein Wunder, dass Europa in Libyen ins Hintertreffen geraten ist. Russland und die Türkei können mit ihrem Engagement nur deshalb Druck auf die EU machen, weil die Europäer das zulassen.