Alles, was korrekt ist
Boris Palmer ist Oberbürgermeister und reibt sich regelmäßig an der politischen Korrektheit – Höchste Zeit, mit ihm darüber zu streiten
- Diesen Mann gibt es inzwischen auch als Verb. „Anpalmern“heißt das Zeitwort, verwendet hat es die „Berliner Zeitung“im Dezember 2018, in dieser Schlagzeile: „Jetzt wird Ramona Pop angepalmert“. Es ging um einen Streit zwischen Pop, grüner Wirtschaftssenatorin in der Bundeshauptstadt, und Boris Palmer. Palmer hatte in einem Interview über Berlin unter anderem gesagt: „Wenn ich dort ankomme, denke ich immer: ,Vorsicht, Sie verlassen den funktionierenden Teil Deutschlands.‘“An Boris Palmer ist zweierlei eindeutig: Er ist seit 2007 Oberbürgermeister von Tübingen. Und seit 1996 Mitglied der Grünen. Was er sonst noch ist, darüber wird in ganz Deutschland gestritten – regelmäßig und heftig.
„Deutschlands bekanntester Oberbürgermeister“nennt ihn der Siedler-Verlag, bei dem im Herbst 2019 Palmers jüngstes Buch erschienen ist, der Titel lautet: „Erst die Fakten, dann die Moral“. In einer Rezension darüber in der „Süddeutschen Zeitung“steht, Boris Palmer sei so etwas wie der „Oberbürgermeister des deutschen Volksempfindens“. „Rassistisch“und „scheinheilig“nannte ihn Bettina Gaus, politische Korrespondentin der linken „taz“, im April 2019. Der Anlass damals: Ein Facebook-Post Palmers, in dem er eine Werbekampagne der Deutschen Bahn kritisiert hatte, weil seiner Meinung nach nichtweiße Menschen darin überrepräsentiert waren. Palmers Kernfrage: „Welche Gesellschaft soll das abbilden?“
Ich treffe mich mit Boris Palmer im Rathaus von Tübingen, in seinem Amtszimmer. Wir nehmen Platz an einem runden Besprechungstisch, auf den an diesem milden Januartag viel Sonnenlicht fällt, durch die Fensterfront mit dem Gittermuster und dem Blick auf die Fachwerkfassaden der Tübinger Altstadt. Vor uns zwei Mikrofone, ein Aufnahmegerät: Wir nehmen hier die 29. Folge von „Steile These“auf – dem Politik-Podcast der „Schwäbischen Zeitung“, der vom Streit lebt. In jeder Folge geht es um eine steile These, in jeder Folge diskutiere ich darüber mit einem oder mehreren Gästen. Meine steile These ist diesmal: Politische Korrektheit ist viel besser als ihr Ruf.
Boris Palmer reibt sich regelmäßig an der politischen Korrektheit, auch englisch Political Correctness oder kurz PC genannt. Er reizt die Grenzen dieses Prinzips aus, nach dem gesellschaftliche Gruppen durch Sprache nicht verletzt, diskriminiert, ausgegrenzt werden sollen. Seine Kritiker sagen: Er überschreitet diese Grenzen immer wieder. Mit seinem Facebook-Post zur Bahnwerbung. Mit einer Äußerung zu einem dunkelhäutigen Radfahrer im Mai 2018, der Palmer nach dessen Aussage fast „umgenietet“hatte – und über den er sagte: „Ich wette, dass es ein Asylbewerber war.“Es folgten Shitstorms, Stürme der Empörung in sozialen Netzwerken und in der Führungsetage seiner Partei, den Grünen.
Höchste Zeit, mit Boris Palmer zu streiten.
Ich beginne den Streit, indem ich Palmer selbst zitiere – genauer gesagt, Seite 184 seines 2019 erschienenen Buchs „Erst die Fakten, dann die Moral“.
Sie schreiben: „Wir sollten sehr wohl beachten, dass Menschen mit schwarzer Hautfarbe sich durch ,Mohren-Worte‘ verletzt fühlen. Ich denke aber nicht, dass diese subjektive Verletzung ausreicht, um Sprechern die Verwendung des Wortes zu verbieten.“Ich bin ja bei Ihnen, dass man die Verwendung dieser Wörter nicht verbieten sollte, weil das hochproblematisch und gesellschaftlich nicht wünschenswert wäre. Aber ich sage auch: Die Entrüstung muss jemand, der solche Wörter verwendet, schon aushalten müssen. Wie soll das sonst zusammengehen – Wörter nicht mehr verwenden zu wollen, weil man einsieht, dass sie Menschen verletzen, und auf der anderen Seite die Verwendung nicht sanktionieren?
Palmer entgegnet:
Es gibt ganz viele Bereiche, in denen wir eine Art Übereinkunft erzielen, dass bestimmte Dinge eher nicht statthaft sind – ohne deswegen Sanktionen auszusprechen. Die Tischsitten werden nicht durch Sanktionen durchgesetzt, und Fast Food hat sich irgendwie auch so als Parallelkultur etabliert. Es wäre ganz schlimm, wenn wir nur sanktionierte Bereiche der Gesellschaft festlegen könnten, und alles andere würde nicht funktionieren. Deswegen glaube ich, es muss auch Bereiche der individuellen Abwägung, der Freiheit geben, wo man zwar appelliert und auch wirbt, aber nicht mit Entrüstung oder Empörung reagiert.
Ich knüpfe daran an, sage, dass Appellieren und Werben eben nicht ausreichen, dass der Kampf gegen Rassismus – der im Diskriminierungsverbot, in Artikel 3 Absatz 3 des Grundgesetzes verankert ist – ohne politische Korrektheit nicht vorankommt. Palmer antwortet, dass es für ihn auf die Absicht ankommt. Für ihn sei entscheidend, was jemand mit einer Aussage bewirken will – nicht, welche Begriffe er verwendet. Er nennt ein Beispiel, das er aus einem Buch der Journalistin und TV-Moderatorin Dunja Hayali übernimmt:
Dunja Hayali schreibt in ihrem sehr lesenswerten Buch von der Szene, inderin einer S- Bahn keiner aufsteht, als schwarz afrikanisch stämmige junge Männer angegriffen werden – bis auf einen alten Bayern in Ledertracht. Und der sagt dann: „Jetzt lasst’s mir die Neger in Ruh’!“Ich würde es für völlig falsch halten, den Mann wegen der Verwendung dieses offenkundig veralteten, eigentlich nicht mehr akzeptablen Begriffes zu kritisieren. Sondern ich finde, die Absicht entscheidet an dieser Stelle: Klar, dass der Mann zu loben ist für seinen Einsatz!
Dann kommt er vom konkreten Fall ins Allgemeine.
Und da wird einfach maßlos überzogen. Es wird sehr häufig Menschen, die sich nichts dabei denken und die keinerlei böse Absicht im Hinterkopf haben, mit der gleichen Entrüstung und Empörung begegnet wie den Rassisten, die absichtlich Menschen verletzen wollen. Und diese Unterscheidung fehlt mir, wenn man nur auf die Begriffe schaut.
Entlang dieser Konfliktlinie treffen wir uns immer wieder bei diesem Streitgespräch. Ich argumentiere mit dem Anliegen, das hinter politischer Korrektheit steht: dem Kampf gegen Rassismus, der aus meiner Sicht auch ein Kampf gegen verletzende und diskriminierende Sprache sein muss. Palmer entgegnet mit den negativen Auswirkungen, die PC in seinen Augen hat: dass alle, die gegen eine bestimmte Auslegung von PC verstoßen, zu Rassisten erklärt werden, obwohl sie es nicht sind. Palmer sagt:
Und da beginnt für mich das Problem, weil man das Gegenteil erreicht. Man erreicht nämlich damit, dass Menschen sich abkapseln, das Verständnis verlieren, statt es zu gewinnen.
Das Thema ist für Boris Palmer zentral. Ein 30 Seiten langes Kapitel in seinem jüngsten Buch dreht sich um politische Korrektheit und um Identitätspolitik – unter der Überschrift „Empört Euch! Aber werdet nicht intolerant“. Rund 50 Minuten dauert unser Podcast-Streitgespräch. Palmer stützt sich in dessen Verlauf immer wieder auf seine Ellbogen auf, beugt sich nach vorne, knetet seine Hände, gestikuliert. Mir ist Palmers Betrachtung der politischen Korrektheit zu negativ. Aus meiner Sicht hat sie viel Gutes bewirkt. Sie hat die Sensibilität erhöht dafür, was Wörter anrichten können, wie manche Ausdrücke rassistische und sonstige Vorurteile transportieren und sogar festigen. Deshalb verwenden heute die meisten Menschen eben – anders als vor ein paar Jahrzehnten – bestimmte Wörter nicht mehr, die Mitmenschen weh tun. Boris Palmer sagt dann:
Ich bin kein Gegner der Political Correctness, sondern des Einsatzes der Political Correctness im Übermaß.
Palmer meint, dieses Übermaß könne Menschen vergrätzen und an den Rand der Gesellschaft drängen. Er spricht vom Streit um die Ethnologin Susanne Schröter. Schröter kritisiert häufig den Einfluss des politischen Islam in Deutschland. Als sie im Mai 2019 an einer Konferenz über das islamische Kopftuch teilnehmen sollte, protestierte dagegen eine Gruppe Studierender lautstark und forderte sogar Schröters Absetzung als Dozentin.
Ich entgegne: Politische Korrektheit schlechtzureden, weil es auch Eiferer gibt, die es damit übertreiben, ist falsch. Und: Der Rassismus in Deutschland ist nach wie vor so präsent – vom psychisch schmerzhaften Alltagsrassismus bis zu mörderischer Gewalt –, dass Rücksicht in der Sprache unbedingt nötig ist. Ich frage:
Muss das nicht auch eine Zumutung sein für die Leute, die sagen: „Ich hab’ doch immer Wort XY benutzt für schwarze Menschen“? Ich denke, Ihre Argumentation birgt die Gefahr, dass man Menschen Zumutungen erspart, die aber nötig sind für die Gesellschaft.
Palmer antwortet:
Ich will denen ja die Auseinandersetzung mit der Problematik nicht ersparen. Ich will sie nur in einer dialogischen Form führen, das ist alles.
Später im Streitgespräch geht es um Boris Palmers Hang zur Provokation. Um die Facebook-Posts und Interviews, mit denen er aus Tübingen bundesweite Debatten lostritt und – wie ihm viele vorwerfen – Öl ins Feuer gießt. Palmer sagt, er sei eben ein Freund klarer Worte, und es fehlten ohnehin Typen in der Politik, die erkennbar eine eigene Haltung vertreten. Ich konfrontiere Palmer mit dem Applaus von rechts außen, den er immer wieder bekommt, wenn er sich öffentlich äußert. Ich sage ihm:
Wie Sie das tun, wie Sie mit diesem Thema politische Korrektheit umgehen, ist nicht der Debatte förderlich.
Und ich sage Palmer: Ob er es will oder nicht, er dockt mit seinen Äußerungen immer wieder an die Menschen an, die PC bekämpfen, weil sie ihre rassistischen Positionen verteidigen wollen. Er sagt:
Ich glaube, man muss sich letztlich davon freimachen, dass man von anderen falsch zitiert, missbraucht oder als Kronzeuge benutzt werden kann. Da bin ich echt bei Habermas, am Ende zählt der sanfte Zwang des Arguments – und es ist mir völlig wurscht, ob irgendein Dackel, irgendein rassistischer Seggel jetzt auch noch meint, dass ich ihm recht gegeben habe – wenn ich in Wahrheit in jedem einzelnen Punkt ihm vollständig widerspreche.
Wie gut oder schlecht ist politische Korrektheit eigentlich? 52 Minuten dauert das Streitgespräch zwischen dem Tübinger OB Boris Palmer und Politikredakteur Sebastian Heinrich. Es geht unter anderem darum, wie politische Korrektheit entstanden ist, ob PC wirklich Gängelung oder gar Diskursverbote mit sich bringt – oder ob sie eine nötige Zumutung ist für Menschen, die im Alltag keine Diskriminierung erleben.
Das ganze Gespräch hören Sie ab Sonntag, 26.1., 7 Uhr auf: schwäbische.de/steile-these