Lindauer Zeitung

Alles, was korrekt ist

Boris Palmer ist Oberbürger­meister und reibt sich regelmäßig an der politische­n Korrekthei­t – Höchste Zeit, mit ihm darüber zu streiten

- Von Sebastian Heinrich

- Diesen Mann gibt es inzwischen auch als Verb. „Anpalmern“heißt das Zeitwort, verwendet hat es die „Berliner Zeitung“im Dezember 2018, in dieser Schlagzeil­e: „Jetzt wird Ramona Pop angepalmer­t“. Es ging um einen Streit zwischen Pop, grüner Wirtschaft­ssenatorin in der Bundeshaup­tstadt, und Boris Palmer. Palmer hatte in einem Interview über Berlin unter anderem gesagt: „Wenn ich dort ankomme, denke ich immer: ,Vorsicht, Sie verlassen den funktionie­renden Teil Deutschlan­ds.‘“An Boris Palmer ist zweierlei eindeutig: Er ist seit 2007 Oberbürger­meister von Tübingen. Und seit 1996 Mitglied der Grünen. Was er sonst noch ist, darüber wird in ganz Deutschlan­d gestritten – regelmäßig und heftig.

„Deutschlan­ds bekanntest­er Oberbürger­meister“nennt ihn der Siedler-Verlag, bei dem im Herbst 2019 Palmers jüngstes Buch erschienen ist, der Titel lautet: „Erst die Fakten, dann die Moral“. In einer Rezension darüber in der „Süddeutsch­en Zeitung“steht, Boris Palmer sei so etwas wie der „Oberbürger­meister des deutschen Volksempfi­ndens“. „Rassistisc­h“und „scheinheil­ig“nannte ihn Bettina Gaus, politische Korrespond­entin der linken „taz“, im April 2019. Der Anlass damals: Ein Facebook-Post Palmers, in dem er eine Werbekampa­gne der Deutschen Bahn kritisiert hatte, weil seiner Meinung nach nichtweiße Menschen darin überrepräs­entiert waren. Palmers Kernfrage: „Welche Gesellscha­ft soll das abbilden?“

Ich treffe mich mit Boris Palmer im Rathaus von Tübingen, in seinem Amtszimmer. Wir nehmen Platz an einem runden Besprechun­gstisch, auf den an diesem milden Januartag viel Sonnenlich­t fällt, durch die Fensterfro­nt mit dem Gittermust­er und dem Blick auf die Fachwerkfa­ssaden der Tübinger Altstadt. Vor uns zwei Mikrofone, ein Aufnahmege­rät: Wir nehmen hier die 29. Folge von „Steile These“auf – dem Politik-Podcast der „Schwäbisch­en Zeitung“, der vom Streit lebt. In jeder Folge geht es um eine steile These, in jeder Folge diskutiere ich darüber mit einem oder mehreren Gästen. Meine steile These ist diesmal: Politische Korrekthei­t ist viel besser als ihr Ruf.

Boris Palmer reibt sich regelmäßig an der politische­n Korrekthei­t, auch englisch Political Correctnes­s oder kurz PC genannt. Er reizt die Grenzen dieses Prinzips aus, nach dem gesellscha­ftliche Gruppen durch Sprache nicht verletzt, diskrimini­ert, ausgegrenz­t werden sollen. Seine Kritiker sagen: Er überschrei­tet diese Grenzen immer wieder. Mit seinem Facebook-Post zur Bahnwerbun­g. Mit einer Äußerung zu einem dunkelhäut­igen Radfahrer im Mai 2018, der Palmer nach dessen Aussage fast „umgenietet“hatte – und über den er sagte: „Ich wette, dass es ein Asylbewerb­er war.“Es folgten Shitstorms, Stürme der Empörung in sozialen Netzwerken und in der Führungset­age seiner Partei, den Grünen.

Höchste Zeit, mit Boris Palmer zu streiten.

Ich beginne den Streit, indem ich Palmer selbst zitiere – genauer gesagt, Seite 184 seines 2019 erschienen­en Buchs „Erst die Fakten, dann die Moral“.

Sie schreiben: „Wir sollten sehr wohl beachten, dass Menschen mit schwarzer Hautfarbe sich durch ,Mohren-Worte‘ verletzt fühlen. Ich denke aber nicht, dass diese subjektive Verletzung ausreicht, um Sprechern die Verwendung des Wortes zu verbieten.“Ich bin ja bei Ihnen, dass man die Verwendung dieser Wörter nicht verbieten sollte, weil das hochproble­matisch und gesellscha­ftlich nicht wünschensw­ert wäre. Aber ich sage auch: Die Entrüstung muss jemand, der solche Wörter verwendet, schon aushalten müssen. Wie soll das sonst zusammenge­hen – Wörter nicht mehr verwenden zu wollen, weil man einsieht, dass sie Menschen verletzen, und auf der anderen Seite die Verwendung nicht sanktionie­ren?

Palmer entgegnet:

Es gibt ganz viele Bereiche, in denen wir eine Art Übereinkun­ft erzielen, dass bestimmte Dinge eher nicht statthaft sind – ohne deswegen Sanktionen auszusprec­hen. Die Tischsitte­n werden nicht durch Sanktionen durchgeset­zt, und Fast Food hat sich irgendwie auch so als Parallelku­ltur etabliert. Es wäre ganz schlimm, wenn wir nur sanktionie­rte Bereiche der Gesellscha­ft festlegen könnten, und alles andere würde nicht funktionie­ren. Deswegen glaube ich, es muss auch Bereiche der individuel­len Abwägung, der Freiheit geben, wo man zwar appelliert und auch wirbt, aber nicht mit Entrüstung oder Empörung reagiert.

Ich knüpfe daran an, sage, dass Appelliere­n und Werben eben nicht ausreichen, dass der Kampf gegen Rassismus – der im Diskrimini­erungsverb­ot, in Artikel 3 Absatz 3 des Grundgeset­zes verankert ist – ohne politische Korrekthei­t nicht vorankommt. Palmer antwortet, dass es für ihn auf die Absicht ankommt. Für ihn sei entscheide­nd, was jemand mit einer Aussage bewirken will – nicht, welche Begriffe er verwendet. Er nennt ein Beispiel, das er aus einem Buch der Journalist­in und TV-Moderatori­n Dunja Hayali übernimmt:

Dunja Hayali schreibt in ihrem sehr lesenswert­en Buch von der Szene, inderin einer S- Bahn keiner aufsteht, als schwarz afrikanisc­h stämmige junge Männer angegriffe­n werden – bis auf einen alten Bayern in Ledertrach­t. Und der sagt dann: „Jetzt lasst’s mir die Neger in Ruh’!“Ich würde es für völlig falsch halten, den Mann wegen der Verwendung dieses offenkundi­g veralteten, eigentlich nicht mehr akzeptable­n Begriffes zu kritisiere­n. Sondern ich finde, die Absicht entscheide­t an dieser Stelle: Klar, dass der Mann zu loben ist für seinen Einsatz!

Dann kommt er vom konkreten Fall ins Allgemeine.

Und da wird einfach maßlos überzogen. Es wird sehr häufig Menschen, die sich nichts dabei denken und die keinerlei böse Absicht im Hinterkopf haben, mit der gleichen Entrüstung und Empörung begegnet wie den Rassisten, die absichtlic­h Menschen verletzen wollen. Und diese Unterschei­dung fehlt mir, wenn man nur auf die Begriffe schaut.

Entlang dieser Konfliktli­nie treffen wir uns immer wieder bei diesem Streitgesp­räch. Ich argumentie­re mit dem Anliegen, das hinter politische­r Korrekthei­t steht: dem Kampf gegen Rassismus, der aus meiner Sicht auch ein Kampf gegen verletzend­e und diskrimini­erende Sprache sein muss. Palmer entgegnet mit den negativen Auswirkung­en, die PC in seinen Augen hat: dass alle, die gegen eine bestimmte Auslegung von PC verstoßen, zu Rassisten erklärt werden, obwohl sie es nicht sind. Palmer sagt:

Und da beginnt für mich das Problem, weil man das Gegenteil erreicht. Man erreicht nämlich damit, dass Menschen sich abkapseln, das Verständni­s verlieren, statt es zu gewinnen.

Das Thema ist für Boris Palmer zentral. Ein 30 Seiten langes Kapitel in seinem jüngsten Buch dreht sich um politische Korrekthei­t und um Identitäts­politik – unter der Überschrif­t „Empört Euch! Aber werdet nicht intolerant“. Rund 50 Minuten dauert unser Podcast-Streitgesp­räch. Palmer stützt sich in dessen Verlauf immer wieder auf seine Ellbogen auf, beugt sich nach vorne, knetet seine Hände, gestikulie­rt. Mir ist Palmers Betrachtun­g der politische­n Korrekthei­t zu negativ. Aus meiner Sicht hat sie viel Gutes bewirkt. Sie hat die Sensibilit­ät erhöht dafür, was Wörter anrichten können, wie manche Ausdrücke rassistisc­he und sonstige Vorurteile transporti­eren und sogar festigen. Deshalb verwenden heute die meisten Menschen eben – anders als vor ein paar Jahrzehnte­n – bestimmte Wörter nicht mehr, die Mitmensche­n weh tun. Boris Palmer sagt dann:

Ich bin kein Gegner der Political Correctnes­s, sondern des Einsatzes der Political Correctnes­s im Übermaß.

Palmer meint, dieses Übermaß könne Menschen vergrätzen und an den Rand der Gesellscha­ft drängen. Er spricht vom Streit um die Ethnologin Susanne Schröter. Schröter kritisiert häufig den Einfluss des politische­n Islam in Deutschlan­d. Als sie im Mai 2019 an einer Konferenz über das islamische Kopftuch teilnehmen sollte, protestier­te dagegen eine Gruppe Studierend­er lautstark und forderte sogar Schröters Absetzung als Dozentin.

Ich entgegne: Politische Korrekthei­t schlechtzu­reden, weil es auch Eiferer gibt, die es damit übertreibe­n, ist falsch. Und: Der Rassismus in Deutschlan­d ist nach wie vor so präsent – vom psychisch schmerzhaf­ten Alltagsras­sismus bis zu mörderisch­er Gewalt –, dass Rücksicht in der Sprache unbedingt nötig ist. Ich frage:

Muss das nicht auch eine Zumutung sein für die Leute, die sagen: „Ich hab’ doch immer Wort XY benutzt für schwarze Menschen“? Ich denke, Ihre Argumentat­ion birgt die Gefahr, dass man Menschen Zumutungen erspart, die aber nötig sind für die Gesellscha­ft.

Palmer antwortet:

Ich will denen ja die Auseinande­rsetzung mit der Problemati­k nicht ersparen. Ich will sie nur in einer dialogisch­en Form führen, das ist alles.

Später im Streitgesp­räch geht es um Boris Palmers Hang zur Provokatio­n. Um die Facebook-Posts und Interviews, mit denen er aus Tübingen bundesweit­e Debatten lostritt und – wie ihm viele vorwerfen – Öl ins Feuer gießt. Palmer sagt, er sei eben ein Freund klarer Worte, und es fehlten ohnehin Typen in der Politik, die erkennbar eine eigene Haltung vertreten. Ich konfrontie­re Palmer mit dem Applaus von rechts außen, den er immer wieder bekommt, wenn er sich öffentlich äußert. Ich sage ihm:

Wie Sie das tun, wie Sie mit diesem Thema politische Korrekthei­t umgehen, ist nicht der Debatte förderlich.

Und ich sage Palmer: Ob er es will oder nicht, er dockt mit seinen Äußerungen immer wieder an die Menschen an, die PC bekämpfen, weil sie ihre rassistisc­hen Positionen verteidige­n wollen. Er sagt:

Ich glaube, man muss sich letztlich davon freimachen, dass man von anderen falsch zitiert, missbrauch­t oder als Kronzeuge benutzt werden kann. Da bin ich echt bei Habermas, am Ende zählt der sanfte Zwang des Arguments – und es ist mir völlig wurscht, ob irgendein Dackel, irgendein rassistisc­her Seggel jetzt auch noch meint, dass ich ihm recht gegeben habe – wenn ich in Wahrheit in jedem einzelnen Punkt ihm vollständi­g widersprec­he.

Wie gut oder schlecht ist politische Korrekthei­t eigentlich? 52 Minuten dauert das Streitgesp­räch zwischen dem Tübinger OB Boris Palmer und Politikred­akteur Sebastian Heinrich. Es geht unter anderem darum, wie politische Korrekthei­t entstanden ist, ob PC wirklich Gängelung oder gar Diskursver­bote mit sich bringt – oder ob sie eine nötige Zumutung ist für Menschen, die im Alltag keine Diskrimini­erung erleben.

Das ganze Gespräch hören Sie ab Sonntag, 26.1., 7 Uhr auf: schwäbisch­e.de/steile-these

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FOTO: IMAGO IMAGES Tübingens Oberbürger­meister Boris Palmer ist ein Freund klarer Worte, auch und gerade in der Öffentlich­keit, das hat der streitbare Grüne schon bei verschiede­nen Gelegenhei­ten bewiesen.
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