Jubiläum
Der Komponist Anton Reicha erblickte vor 250 Jahren das Licht der Welt
Anton, Antoine, Antonín? Je nachdem, wo man Musik des in Prag geborenen Komponisten aufführt, wird sein Name unterschiedlich angegeben. Reicha wurde als Musiker wie sein gleichaltriger Jugendfreund und Kollege Ludwig van Beethoven in der Bonner Hofkapelle groß. In Tschechien schreibt man ihn heute „Rejcha“und reklamiert ihn als großen Sohn des Landes, obwohl er dort als Künstler zeitlebens gar nicht gewirkt hat. Während man heuer allerorten das Beethoven-Jahr 2020 feiert, wird vom 250. Geburtstag Reichas selbst in „Klassik“-Kreisen kaum Notiz genommen.
Anton Reicha kam am 26. Februar 1770 als Sohn eines Stadtpfeifers zur Welt. Nach dem frühen Tod des Vaters wurde er als Zehnjähriger von seinem Onkel Joseph Reicha adoptiert. Der damals bekannte
Cellist und Komponist nahm den Neffen in die schwäbische Marktgemeinde Wallerstein mit, wo er selbst Hofkapellmeister war. In der Folgezeit unterrichtete er den Jungen im Geigen-, Flötenund Klavierspiel. Ergänzt wurde die musikalische Ausbildung durch eine gründliche Unterweisung im Tonsatz. 1785 ging Joseph Reicha als Kapellmeister nach Bonn. Anton kam mit.
In der Kurfürstlichen Hofkapelle wurde der Teenager Reicha als zweiter Flötist und als Geiger eingestellt. 1789 kam der junge Beethoven als Bratschist in das Orchester. Bald bahnte sich zwischen den beiden Musikern eine Freundschaft an, die auch später bestehen bleiben sollte. Wie Beethoven hat Reicha in Bonn wohl auch Kompositionsstunden bei Christian Gottlieb Neefe erhalten, der dort als Hoforganist wirkte. Johann Sebastian Bachs „Wohltemperiertes Klavier“gehörte da ebenso zum Unterrichtsstoff wie Werke von Carl Philipp Emanuel Bach, Antonio Salieri oder Wolfgang A. Mozart.
Schon 1787 konnte Reicha in Bonn unter anderem eine erste Sinfonie präsentieren. 1789 begann er an der dortigen Universität Philosophie, Logik und Metaphysik zu studieren. Nach der Auflösung des Bonner Orchesters im Zuge der französischen Besetzung der Stadt floh er 1794 nach Hamburg, schlug sich dort als Lehrer für Musiktheorie und Klavier durch und komponierte fleißig. Neben Instrumentalmusik schrieb er auch zwei Opern. In Paris, wohin er 1799 umzog, konnte er jedoch keine davon auf die Bühne bringen. Lediglich mit Sinfonien erzielte er einige Achtungserfolge.
Enttäuscht ging Reicha zwei Jahre später nach Wien und erneuerte den Kontakt zu Beethoven, der hier schon seit 1792 eine neue Bleibe gefunden hatte. Wie sein mittlerweile arrivierter Freund suchte nun auch Reicha den Rat Joseph Haydns und vertiefte seine kompositorischen Kenntnisse bei Salieri und Johann Georg Albrechtsberger. Besonders die Disziplin der Fuge, die letzterer lehrte, hatte es ihm angetan. Schon in Hamburg hatte er theoretisch und praktisch an einem eigenen „neuen Fugensystem“getüftelt.
Mit Beethoven, der damals an seiner „Eroica“arbeitete, diskutierte Reicha nun zeitgemäße Verwendungsmöglichkeiten der altehrwürdigen Form in moderner Komposition. In Kennerkreisen lagen solche Ideen spätestens seit Nikolaus Forkels 1802 erschienener Bach-Biografie in der Luft. Reicha veröffentlichte ein Jahr später seine „36 Fugen“mit Widmung an Haydn. Beethoven lehnte den zukunftsweisenden Zyklus mit der Bemerkung ab, hier sei „die Fuge keine Fuge mehr“. Auch er hat freilich immer wieder kreativ mit dem Fugenprinzip experimentiert.
Zu den rund 50 Werken, die Reicha in Wien komponierte, gehört auch die Oper „Argine“, an deren Privataufführung in der Hofburg Kaiserin Maria Theresia höchstselbst mitwirkte. Ein zweites Mal gaben dann Kriegsereignisse seinem Leben eine unerwartete Wendung. 1808 ließ er sich in Paris nieder, erwarb sich als Lehrer wachsendes Ansehen und erhielt 1818 eine Professur für Kontrapunkt und Fuge am berühmten Conservatoire. Zu seinen Schülern zählten Hector Berlioz, Adolph Adam, Louise Farrenc, Franz Liszt, Charles Gounod, Pauline Viardot und César Franck.
Kompositorisch setzte Reicha in Frankreich besonders mit seinen gattungsstiftenden Bläserquintetten Akzente. Wie Haydns Streichquartette können diese 24 Musterwerke quasi als Bibel für ihre Besetzung gelten. Daneben veröffentlichte der unermüdliche Theoretiker bedeutende Lehrbücher. Dass er 1835 endlich in die Académie Française aufgenommen wurde, bezeichntete Berlioz als „späten Akt der Gerechtigkeit“und nannte den Geehrten einen „echten Revolutionär“, einen „der gelehrtesten Köpfe Europas“. Reicha hat neun Jahre länger als Beethoven gelebt. Am 28. Mai 1836 starb er in Paris.