„Heimat ist die Familie“
Lindenberger Gert Kausträter floh als kleiner Junge mit seiner Mutter aus Ostpreußen – Wie die Flucht den 77-Jährigen geprägt hat
- Der Collegeblock sieht nicht aus, als wäre er etwas Besonderes. DIN-A5, liniert, jeder Schüler hatte so etwas schon einmal in der Hand. Lediglich das Deckblatt unterscheidet sich: Vorne kleben zwei ausgedruckte Bilder, eines zeigt ein antikes Foto, das andere eine Zeichnung. Auf dem Foto schmiegt sich ein kleiner Junge im gestrickten Pullover an eine zaghaft lächelnde Frau mit Hut. Die Zeichnung ist eine kleine Rose, darunter stehen die Worte „In ewiger Dankbarkeit – GK“.
Ja, seiner Mutter sei er ewig dankbar, sie habe ihn gerettet, sagt Gert Kausträter. Der 77-Jährige sitzt in seiner Wohnung in Lindenberg, vor ihm der vollgeschriebene Collegeblock. Darin hat seine Mutter handschriftlich festgehalten, wie sie 1945 mit zwei kleinen Kindern aus Königsberg floh. Die damalige ostpreußische Stadt heißt heute Kaliningrad und gehört zu Russland.
Dort wird Gert Kausträter im April 1942 geboren, als Sohn einer Wirtshaustochter und eines Wehrmachtsoldaten. Die Eltern seiner Mutter besitzen ein Restaurant, in dem NSDAP-Mitglieder und Soldaten gern gesehene Gäste sind. Seine Großeltern seien „große Hitler-Anhänger“gewesen, erzählt Kausträter, dessen zweiter Vorname Adolf ist.
„Aber den verwende ich nicht.“Es ist der 13. Januar 1945: Die Rote Armee nimmt Königsberg ein. Die russischen Soldaten plündern, vergewaltigen und erschießen unzählige Menschen. Von diesen Szenen erzählt nicht nur Gert Kausträter, viele Zeitzeugen haben davon berichtet. Der 77-Jährige kann sich aber nicht an konkrete Ereignisse erinnern, seine Erzählung stützt sich auf die Aussagen seiner Mutter. Grete Kausträter hat auch niedergeschrieben, wie ihre Mutter von den russischen Soldaten erschossen wurde – weil sie NSDAP-Mitglied war. Dieses Detail hat Kausträters Mutter aber aus den Aufzeichnungen herausgelassen, auch die Themen Holocaust oder Nationalsozialismus wurden nach dem Krieg gar nicht oder kaum angesprochen.
Die junge Frau will nach der Erschießung mit Gert und seiner kleinen Schwester fliehen, der Vater ist in russischer Gefangenschaft. „Meine Mutti hat dann einen Kinderwagen mit einem doppelten Boden präpariert und unten Zigaretten und Spirituosen reingelegt – zum Tauschen“, erzählt Kausträter. Seine Mutter will mit den Tanten auf ein Schiff, die Wilhelm Gustloff, ein ehemaliges Schiff der Nazi-Organisation „Kraft durch Freude“, das nun unter der Flagge des Roten Kreuzes fährt.
Den kleinen Gert bindet die Mutter mit einem Drahtseil am Kinderwagen
fest, dass er nicht verloren geht. Doch im Gedränge schaffen sie es nicht auf das Schiff: „Unser Glück“, sagt Kausträter heute. Die Wilhelm Gustloff wurde am 30. Januar 1945 von einem sowjetischen U-Boot versenkt.
Für das Trio geht die Reise zu Fuß weiter, nachts schlafen sie in Straßengräben, bedeckt von Mänteln und Regenschirmen. „Gerti, bleibt schön hier“, soll die Mutter gesagt haben, bevor sie zu ansässigen Bauern ging und um Essen bat.
Drei Monate ist die kleine Familie auf der Flucht, länger als 1000 Kilometer ist die Strecke. Ihr erster Stopp ist Suhl in Thüringen, dort lebt eine Bekannte. Das eigentliche
Ziel aber ist Gelsenkirchen, dort wohnt die Familie des Vaters, der immer noch in Gefangenschaft ist. Ein gewagter Plan – denn die Verwandten kannten weder Mutter noch Kinder. „Wir wussten nicht, ob wir willkommen sind“, erzählt Kausträter. Die Familie habe sie aber dann herzlich aufgenommen.
Zwei oder drei Jahre später, so genau weiß Gert Kausträter das nicht, kehrt der Vater zurück. „Für mich stand da ein fremder, abgemagerter Mann vor der Tür“, erinnert sich der 77-Jährige. Die Distanz zwischen Vater und Sohn wird sich von da an durch Kausträters Leben ziehen. „Wir hatten kein herzliches Verhältnis.“Wie Kausträter erging es vielen
Kriegskindern: Flucht, Hunger und Gewalt prägten sie. Bis ins Jugendlichenalter litt Kausträter laut eigener Aussage unter Frostzehen, noch heute hat er die Bilder vom Kanonendonner im Kopf, wacht nachts deswegen auf. Auch sein Rückgrat ist entzündet, seit er ein junger Mann ist. Eine Ursache sahen die Ärzte in der Flucht, dem vielen Zusammenkauern und Verstecken.
Sie raten Kausträter, doch lieber in den Süden zu ziehen. Der gelernte Maschinenschlosser bewirbt sich also bei der Technikerschule Weiler und zieht im Jahr 1962 ins Westallgäu. Dort lernt er seine Frau Waltraud kennen, sie heiraten 1967, dann ziehen sie zunächst nach München, später nach Augsburg – und schließlich wieder ins Westallgäu, nach Lindenberg. Seine Frau habe ihre Heimat vermisst, sagt Kausträter.
Sie war es, die die Mutter ermunterte, von der Flucht zu erzählen, die Geschichte aufzuschreiben. Seine Frau sei fasziniert von diesem Thema gewesen, da sie als Lindenbergerin nicht direkt betroffen gewesen sei, erinnert sich Gert Kausträter. „Außerdem waren Ostpreußen, das Elternhaus und die Flucht immer Thema bei uns“, sagt er.
Wenn der 77-Jährige heute sieht, wie Menschen aus ihrer Heimat flüchten, empfindet er „sehr viel Mitgefühl“. Zumal diese Geflüchteten oft – im Gegensatz zu ihm damals – eine neue Sprache lernen müssen. „Ich kam ja als Deutscher.“Der steigende Antisemitismus und die Radikalisierung junger Menschen machen ihn „zornig und traurig“, obwohl er findet, dass Folgegenerationen nicht für die Verbrechen der Nationalsozialisten verantwortlich gemacht werden sollten.
Seine Geburtsstadt hat Kausträter nie wieder besucht, es kam immer etwas dazwischen. Königsberg, Gelsenkirchen, Augsburg, München oder Lindenberg – gibt es für Gert Kausträter eine Heimat? „Keinen Ort, nein“, sagt der 77-Jährige. „Heimat ist die Familie.“Dann zögert er: „Doch, ich identifiziere mich jetzt voll als Lindenberger.“