In jedem Blumentopf Schnittlauch anpflanzen
LZ-Serie zum Ende des Zweiten Weltkriegs vor 75 Jahren – Teil 1: Vom Lindauer Alltag der letzten Kriegswochen
- 75 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs erinnert die Lindauer Zeitung an die Zeit damals. Den Auftakt macht ein Bericht über den Alltag in den letzten Kriegswochen.
Die kalte Winterszeit des beginnenden Jahres 1945 stellte die Bevölkerung vor enorme Probleme. Christa Harpf schilderte diese in ihren Erinnerungen wie folgt: „Schon seit Wochen sind die Lindauer Schulen mangels Heizmaterials geschlossen. Die Lindauer Gasthöfe Stift, Peterhof und Seehof stellen ihre Gasträume als Wärmestuben der Öffentlichkeit zur Verfügung. Es herrscht strenge Kälte bei meist schönem Wetter, nachts zeigt das Thermometer bis zu 15 Kältegrade an. Strom und Gasverbrauch sind eingeschränkt, besonders Lindaus Industrie muss sich mit einer zehnprozentigen Stromverminderung abfinden. Lindaus Bürger verheizen Treibholz aus dem See, das, notdürftig getrocknet, fürchterlich qualmt. Aus den umliegenden Wäldern darf mit Genehmigung des Lindauer Forstamtes und dank großzügig durchgeführter Holzaktionen von Forstamtsleiter Dr. Karl Mang, Brucholz verheizt werden. Oft genug geht dabei auch überflüssiges Mobiliar den Weg durch den Kamin. Und es ist sicherlich keine Legende, dass sich oft in stockdunkler Nacht ehrsame Bürger in fremden Jagdgründen beim Holzklau unvermutet und schreckensbleich in die Arme liefen!“
Ein Teil der Lindauer Jugend genoss in Lindaus Kinos die Möglichkeit, sich aufzuwärmen. Neben direkter NS-Propaganda boten die Filme auch geschickt unterhaltende Ablenkung und Durchhalteappelle.
Die Nahrungsmittelsituation war ähnlich dramatisch. Mitte Februar eröffnete das Lindauer NS-Sozialgewerk im Gasthof Anker eine Volksküche mit bis zu hundert Mittag- und Abendessen. Am 28. März erreichte die Frauen folgende Hiobsbotschaft: „Deshalb ist es notwendig, nochmals darauf hinzuweisen, dass die jetzt in den Händen der Verbraucher befindlichen Lebensmittelkarten der 73. Periode nicht, wie aufgedruckt, bis zum 1. April, sondern bis Sonntag, den 8. April, also eine Woche nach Ostern reichen müssen.“Die am 10. April nachgereichten Ratschläge entbehrten nicht eines gewissen Sarkasmus. „Jeder Blumentopf ist zu nutzen, und sei es nur, dass man ihn mit Schnittlauch bepflanzt. Eimer und sonstige Behälter können mit Muttererde gefüllt und darin
Bohnen und vor allem
Tomaten gepflanzt werden.“
Doch wer offen die extreme Mangelsituation kritisierte, wurde mit Gewalt bedroht, so beispielsweise in der Lindauer Lokalzeitung „Südschwäbisches Tagblatt“vom 25. April 1945: „Schlagt den Schwätzern aufs Maul. Verdammt noch einmal! Soll da nicht der Teufel drein hauen! Findet sich wirklich niemand, der den elenden Schwätzern in den Luftschutzkellern und vor den Krämerläden aufs Maul schlägt, daß ihnen ihr einfältiges Gerede
ein für allemal vergeht? Denn es ist nicht nur dumm, sondern gefährlich. Es schadet dem Geist, von dem wir alle beseelt sind, der uns zu einer Gemeinschaft zusammenschmiedet und uns den Glauben an uns selbst nicht verlieren lässt. Um diesen Leuten endgültig ihr dunkles Handwerk zu legen, hat der Kreisleiter verfügt, dass sämtliche Schwätzer und Denunzianten vor das errichtete
Standgericht gestellt und dort der harten Strafe zugeführt werden, die ihnen als Schmarotzer an der Kraft unseres Volkes gebührt. Für jeden einzelnen von uns aber gilt es jetzt, zu zeigen, dass wir stark sind und mutig und dass wir es wert sind, in dieser Zeit Deutsche zu sein…“Gleichzeitig wurden zu Adolf Hitlers Geburtstag am 20. April erneut Kinder in das noch immer mahlende NS-Räderwerk hineingepresst: „Am Vorabend von Führers Geburtstag. Wieder wurden Zehnjährige in die Hitlerjugend eingereiht. Unter Vorantritt eines starken Spielmannszuges, mit wehenden Fahnen und Wimpeln, marschierte der Standort der Hitlerjugend Lindau auf dem Bismarckplatz auf. Trommelwirbel und Fanfarenklänge leiteten die Feierstunde ein.“
In der „Heil- und Pflegeanstalt“Kaufbeuren starb derweil am 11. April 1945 der zwangseingewiesene Wagnergeselle Johann Wagner aus Rehlings im Alter von knapp 40 Jahren an der systematischen Unterernährung, der „stillen Euthanasie“.
Die gespenstische NS-Normalität wurde allerdings zunehmend von der Realität selbst karikiert: Für den 13. April wurde vor der Sängerhalle an der Stelle der heutigen Inselhalle zu einer HundeWehrmachtsmusterung aufgerufen. Vorzuführen seien alle Hunde im Alter von 1 bis 6 Jahren ab 50 Zentimeter Schulterhöhe, um auf ihre Tauglichkeit für die Wehrmacht überprüft zu werden. Nachdem die letzten deutschen Besatzungssoldaten Frankreich hatten verlassen müssen, überschritt die 1. französische Armee „Rhin et Danube“(Rhein und Donau) am 1. April 1945 den Rhein bei Phillipsburg. Lindaus spätere Partnerstadt Chelles war bereits am 27. August 1944 durch US-Truppen befreit worden.
Die Lindauer Zeitung wird die begonnene Serie in den nächsten Wochen mit weiteren historischen Berichten aus dem Jahr 1945 sowie mit Zeitzeugenerzählungen fortsetzen.