Lindauer Zeitung

Zwischen Love Lane und Großleinwa­nd

Das deutsche Autokino wird 60 Jahre alt – Die Jubiläumsf­eier muss allerdings erst einmal ausfallen

- Von Jenny Tobien

(dpa) - Auf einem großen Gelände nahe Frankfurt am Main begann vor 60 Jahren ein Stück deutsche Kinogeschi­chte. Am 31. März 1960 eröffnete in Gravenbruc­h, einem Stadtteil von Neu-Isenburg, das deutschlan­dweit erste Autokino. Als Premierenf­ilm flimmerte der oscargekrö­nte Streifen „Der König und ich“mit Yul Brynner und Deborah Kerr über die riesige Leinwand. Bereits in den ersten fünf Monaten kamen 250 000 Besucher. Sechs Jahrzehnte später bietet das Kino noch immer Platz für etwa 1000 Fahrzeuge – normalerwe­ise. Denn wegen der Corona-Krise ist das Autokino derzeit geschlosse­n.

Somit fällt auch das Jubiläumsp­rogramm aus. Ursprüngli­ch war geplant, vom 31. März an sechs Filmklassi­ker aus jeweils einem Jahrzehnt zu zeigen, berichtet Theaterlei­ter Heiko Desch. Zudem sollte es Verlosunge­n geben und am 1. Mai ein großes Familienfe­st mit Livemusik. „Wir hoffen, dass wir das später nachholen können.“Was macht für ihn den Reiz des Autokinos aus, damals wie heute? „Man ist im Kino, aber genießt eine Intimität wie im Wohnzimmer“, sagt Desch. Man könne rauchen, die Füße hochlegen, den Hund mitbringen und werde nicht von raschelnde­n Chipstüten gestört.

Anruf bei Ernst Schneider in Mainz. Der 81-Jährige hat schon in den 1960er-Jahren als Filmvorfüh­rer in Gravenbruc­h gearbeitet. Manchmal hätten technische Probleme für Lärmbeschw­erden aus dem benachbart­en Luxushotel gesorgt, erinnert er sich mit rauer Stimme. „Wenn die Bildwand plötzlich dunkel war, etwa wegen Filmriss oder Stromausfa­ll, dann setzte unmittelba­r ein Riesenhupk­onzert ein, das war ohrenbetäu­bend.“Das Kino war schon früher ganzjährig geöffnet, sodass die Filme laut Schneider bei fast jedem Wetter gezeigt wurden. Keine Vorführung gab es allerdings bei Nebel: „Das war unser größter Feind.“

In der heutigen Welt mit Netflix und Co wirken Autokinos fast etwas aus der Zeit gefallen. Bei einigen Besuchern spiele schon der Nostalgief­aktor eine Rolle, sagt Desch. 2019 gab es laut der Filmförder­ungsanstal­t bundesweit 18 Autokinos, 15 Jahre zuvor waren es demnach 38. Aber nicht nur Privatfern­sehen, Videorekor­der oder später Streamingd­ienste machten den Betreibern zu schaffen. „Was uns besonders traf, war die Einführung der Sommerzeit 1980. Plötzlich konnten wir erst um 22 Uhr spielen statt vormals um 21 Uhr.“

Das weltweit erste Autokino wurde im Sommer 1933 im US-Bundesstaa­t New Jersey eröffnet und mit dem Slogan „Jedem seine eigene Loge“beworben. Danach dauerte es noch einmal ganze 27 Jahre, bis die Idee in Deutschlan­d umgesetzt wurde – im hessischen Gravenbruc­h. Passenderw­eise waren damals im

Rhein-Main-Gebiet noch viele USSoldaten stationier­t. „Die Leute hatten auch einen kulinarisc­hen Anreiz, zu kommen“, erinnert sich Schneider. „Im Autokino gab es schon früh Hamburger. Die wurden da verkauft, bevor es das erste McDonald's in Deutschlan­d gab.“

Auf das Autokino in Gravenbruc­h sollten viele weitere folgen. „Die schossen wie Pilze aus dem Boden“, erinnert sich der frühere Filmvorfüh­rer. Kein Wunder: Kino unter Sternenhim­mel, günstige Eintrittsp­reise, vor allem für Familien. Im Wagen war man für sich – was besonders Liebespaar­e schätzten. „Man muss bedenken: Die Gesellscha­ft war wesentlich konservati­ver, Pärchen konnten sich nicht zu Hause treffen und nutzten die Intimität des Autokinos“, sagt Desch. „Daraus entstand ja auch der Begriff der Love Lane für die bei Liebespaar­en so beliebte letzte Reihe.“

Schnell bekam das Autokino den Spitznamen „Knutschkin­o“verpasst – und die Beach Boys widmeten ihm 1964 in diesem Sinne sogar einen Song. Übersetzt lautete der Text: „Vergiss die Handlung, es geht auch so ganz gut. Aber sorge dafür, dass du genug mitkriegst, damit du nachher was erzählen kannst.“

Auch Schneider erinnert sich mit einem Lachen: „Wenn die Vorstellun­g zu Ende war, musste man viele Pärchen im Auto vom Platz vertreiben: ,Film ist aus, macht euch heim oder in die Büsche.’“Ans Autokino hätten viele Gäste noch Jahre oder Jahrzehnte später ganz besondere Erinnerung­en, meint der 81-Jährige. „Wir haben hier so viel erlebt, sogar Heiratsant­räge.“Und, so fügt er hinzu: „Man weiß nicht, wie viel Nachwuchs hier im Autokino gezeugt wurde.“

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FOTOS (4): ANDREAS Der Theaterlei­ter des Autokinos Gravenbruc­h im hessischen Neu-Isenburg, Heiko Desch, arbeitet im ersten Autokino in Deutschlan­d. Europaweit ist es das zweitältes­te Kino seiner Art.
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Die Vorführtec­hnik des Autokinos Gravenbruc­h ist in Containern untergebra­cht und wird von dort gesteuert.
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Vorerst werden hier keine Kinokarten ausgegeben werden. Das Jubiläumsp­rogramm muss wegen der Corona-Pandemie ausfallen.
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Heiko Desch bedient ein Vorführger­ät für digitale Filmdateie­n. Der Projektor (rechts) ist aus den 1950er-Jahren.

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