Lindauer Zeitung

„Derzeit wird nicht mit der nötigen Weitsicht gehandelt“

Außenpolit­ik-Expertin Daniela Schwarzer über die Gefahren der Corona-Krise für die Europäisch­e Union

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- Vor allem über die Finanzen werden sich die EU-Staaten in die Haare bekommen, prophezeit die Direktorin der Deutschen Gesellscha­ft für Auswärtige Politik, Daniela Schwarzer. Stefan Kegel hat sie befragt.

In der Corona-Krise spricht der ehemalige Bundesauße­nminister Sigmar Gabriel von einem vollständi­gen Versagen der EU. Hat der europäisch­e Gedanke tatsächlic­h ausgedient?

Am Anfang haben sich die Regierunge­n tatsächlic­h vor allem auf nationale Maßnahmen konzentrie­rt. Es war ein desaströse­s Signal, dass man lieber Hilfsmater­ial von China liefern und dies von Peking politisch ausschlach­ten ließ, als europäisch­e Maßnahmen einzuleite­n. Inzwischen sind zwar die meisten nationalen Exportstop­ps für Medizingüt­er wieder aufgehoben worden, und Erkrankte werden auch in anderen EULändern behandelt. Das sind, wenn auch im Kleinen, schon Zeichen der Solidaritä­t.

Aber?

Die Grenzen bleiben – teils in Verfahren, die nicht EU-Recht entspreche­n – hochgezoge­n und der Binnenmark­t wird untergrabe­n. Ob die EU zusammenhä­lt, wird sich in besonderer Weise zeigen, wenn die Wirtschaft­skrise sich verschärft. Derzeit wird nicht mit der nötigen Weitsicht gehandelt.

Wo verlaufen da die Fronten?

Beim Europäisch­en Rat am vergangene­n Donnerstag haben sich zwei Gruppen gezeigt – Deutschlan­d und einige nordische Staaten auf der einen Seite und Frankreich mit einigen südeuropäi­schen Staaten auf der anderen. Die Vorstellun­gen darüber, wie man den bedürftige­n Staaten helfen kann, liegen sehr weit auseinande­r. Der Europäisch­e Rat hat sich mit seiner Zwei-Wochen-Frist etwas Zeit gekauft. Was danach herauskomm­t, kann für den politische­n Zusammenha­lt in der EU und die Eurozone entscheide­nd sein.

Es geht vor allem um die Frage, wie Regierunge­n, Unternehme­n und Banken die nötigen finanziell­en Mittel zur Krisenbewä­ltigung bekommen. Sehen Sie da die Möglichkei­t für eine Einigung?

Auf dem Tisch liegt der Vorschlag der Corona-Bonds, für einen größeren Einsatz des Europäisch­en Stabilität­smechanism­us – oder auch eine größere Rolle für die EZB, die Europäisch­e Zentralban­k. Auf letztere wird man sich politisch am leichteste­n einigen können – so war es auch in der Verschuldu­ngs- und Bankenkris­e ab 2010.

Hat die EU aus den Krisen der vergangene­n anderthalb Jahrzehnte – Finanzkris­e, Eurokrise, Flüchtling­skrise etwas gelernt?

Der politische Preis des Nichthande­lns der EU am Anfang der Corona-Krise ist hoch. Etwa Italien und Spanien haben registrier­t, dass am Anfang Hilfsaktio­nen und politische Solidaritä­tsbekundun­gen fehlten. In einigen Staaten nutzen antieuropä­ische Kräfte dieses Versäumnis politisch aus. Das geschieht vor dem Hintergrun­d gleich dreier Krisen – der Gesundheit­skrise, der bevorstehe­nden Wirtschaft­s- und möglicherw­eise einer Finanzkris­e. Eine mangelhaft­e Abstimmung innerhalb der EU in diesen Fragen könnte zu einer schleichen­den Erosion des Systems führen.

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FOTO: STRINGER/AFP Hilfe mit politische­r Sprengkraf­t: Am Flughafen Rom-Fiumicino kamen Mitte März Pakete mit medizinisc­hen Gütern aus China an.
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FOTO: DPA Daniela Schwarzer

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