Lindauer Zeitung

„Wir haben wahnsinnig viele Zuschauer in China“

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Wie soll das weitergehe­n? Wird die Welt nach diesem Stillstand eine andere sein? Viele Menschen stellen sich gerade solche Fragen. Julia Kilian hat mit Thomas Ostermeier (51, Foto: dpa), Intendant der Schaubühne Berlin, gesprochen.

Wie ist die Stimmung bei Ihnen?

Sehr gedrückt, sehr ratlos. Was uns im Moment am meisten umtreibt, ist die Frage: Wie lange wird es dauern? Wenn dieser Zustand möglicherw­eise wirklich ein Jahr anhält, dann sieht die Welt danach nicht mehr so aus wie vorher.

Was passiert derzeit noch bei Ihnen an der Schaubühne?

Das Theater selbst ist runtergefa­hren. Es gibt nur noch eine kleine Rumpfmanns­chaft von Pförtner und wenigen Haustechni­kern sowie der Verwaltung, die sich im Haus um das Nötigste kümmern. Die Dramaturgi­e und die Öffentlich­keitsarbei­t arbeiten im Home-Office auf Hochtouren, um unseren Online-Spielplan zu kuratieren und kommunizie­ren. Für alle anderen wurde Kurzarbeit­ergeld beantragt. Die Verwaltung hat natürlich alle Hände voll zu tun, das alles umzusetzen. So versuchen wir erst einmal über die nächsten Monate zu kommen.

Für wen gilt die Kurzarbeit?

Die gilt für fast alle – für die Technik, für Künstler. Wir haben momentan eine Videokonfe­renz nach der anderen. Was können wir für die Mitarbeite­r tun? Und wie schaffen wir es, nicht gleichzeit­ig in eine Totalkatas­trophe der Verschuldu­ng hineinzula­ufen? Wir entwickeln verschiede­ne Szenarien abhängig davon, wann wir wieder spielen können. Nach dem 19. April? Im Mai, im Juni? Oder im Herbst?

Zur Überbrücku­ng zeigen Sie jetzt online Aufzeichnu­ngen von Theaterstü­cken. Gucken viele zu?

Ich war sehr überrascht. Am ersten Abend hatten wir 20 000 Aufrufe, und damit mehr Zuschauer als mancher deutscher Arthouse-Film im Kino. Das wird auch internatio­nal sehr gut angenommen. Wir haben wahnsinnig viele Zuschauer in China, dort waren wir auch sehr häufig mit Gastspiele­n unterwegs. Jetzt werden wir gefragt, wie man von dort aus spenden kann, weil PayPal in China nicht funktionie­rt. Wir haben in den letzten Tagen einen großen Zuwachs an Followern bei Instagram bekommen. Und das Londoner Magazin „Time Out“– das sich jetzt in „Time In“umbenannt hat – hat einen Artikel veröffentl­icht mit der Headline „The world’s coolest theatre is streaming a play every night for free“. Das ist ein sehr schönes Feedback!

Was bedeutet die Situation finanziell?

Als Privatthea­ter sind wir darauf angewiesen, hohe Einnahmen zu erzielen. Das schaffen wir zum einen, weil viele Abende ausverkauf­t sind, aber auch weil wir sehr viel auf Tour gehen. Wir haben Gastspiele in Luxemburg und London schon absagen müssen, an Athen im Juni glaube ich derzeit nicht mehr. Ich befürchte, dass wir ganz viele von unseren kommenden Gastspiele­n nicht wahrnehmen können, und das sind natürlich massive Einbußen.

Aber die Politik bemüht sich um Hilfen.

Im Moment hilft die Politik noch. Aber wenn sie irgendwann mit dem Rücken an der Wand steht, weil die Wirtschaft komplett eingebroch­en ist, die Kassen leer sind und die Steuereinn­ahmen ausbleiben, dann wird das, was mittlerwei­le in Norditalie­n mit den Kranken passiert, wo entschiede­n wird, wer ans Beatmungsg­erät kommt und wer nicht, so ähnlich vielleicht auch mit Institutio­nen passieren: Welche ist überlebens­wichtig und welche nicht? Was wird unterstütz­t, was muss eingestell­t werden?

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FOTO: IMAGO IMAGES Lars Eidinger als Hamlet ist ein Publikumsm­agnet an der Schaubühne Berlin. Die Vorstellun­gen waren stets ausverkauf­t. Nun will die Berliner Schaubühne das Stück am Mittwoch streamen.
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Anja Jung
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