Lindauer Zeitung

Liebe an der Grenze

Wegen der strengen Kontrollen an den Bundesgren­zen sind viele Paare unfreiwill­ig getrennt

- Von Julia Baumann

- So richtig fassen, was da vor zwei Wochen passiert ist, kann es Gerd Kaluzinski noch nicht. Es ist ein sonniger Samstagnac­hmittag, der Lindauer sitzt auf einer Bank am Bodenseeuf­er. Auch die Bänke um ihn herum sind besetzt, die meisten mit Paaren. Der Platz neben Gerd Kaluzinski ist leer. Er hat keine Ahnung, wann er seine Lebensgefä­hrtin wiedersehe­n wird. Dabei lebt sie nur wenige Kilometer entfernt von ihm.

Inja Schneider ist Österreich­erin. Sie wohnt in Wolfurt bei Bregenz. Von Gerd Kaluzinski­s Wohnung ist der Ort etwa 15 Kilometer entfernt. Eine Viertelstu­nde mit dem Auto, meistens nimmt er aber das Fahrrad. „Dann bin ich in einer halben Stunde bei ihr“, sagt er – und stockt. „Jetzt geht das einfach nicht mehr.“Hunderte, wahrschein­lich Tausende Male hat der 56-Jährige die Grenze zwischen Deutschlan­d und Österreich in den vergangene­n Jahren passiert, manchmal mehrmals pro Woche. Gedankenlo­s, denn Bregenz bedeutet für ihn genauso Heimat wie Lindau. „Und jetzt, plötzlich, ist diese Grenze unüberwind­bar.“

Als er in den Nachrichte­n hörte, dass die Länder ihre Grenzen schließen wollen, habe er das erst nicht geglaubt. „Zwölf Stunden später war zu“, erinnert er sich. In einer Nachtund Nebelaktio­n habe er seiner Lebensgefä­hrtin noch Sachen nach Österreich gefahren, um sich dann, kurz vor Mitternach­t, auf unbestimmt­e Zeit von ihr zu verabschie­den.

Seitdem haben die beiden nur noch übers Handy

Kontakt. „Wir telefonier­en viel und schreiben die ganze Zeit“, erzählt

Inja Schneider. Trotzdem sei sie in den vergangene­n

Tagen immer wieder in ein tiefes Loch gefallen. „Es gibt Tage, da geht es mir richtig mies“, sagt die 55-Jährige. „Es ist ganz schlimm, sich nicht in den Arm nehmen zu können. Gerade in einer Krise braucht man das doch ganz besonders.“

Um die Ausbreitun­g des Coronaviru­s einzudämme­n, haben sowohl Deutschlan­d als auch Österreich vor mehr als zwei Wochen strenge Grenzkontr­ollen eingeführt. Als Österreich­erin hat Inja Schneider nun keine Chance mehr, nach Deutschlan­d einzureise­n. „Ausnahmen gelten nur für Personen mit einem deutschen Aufenthalt­stitel, Personen mit Wohnsitz in Deutschlan­d, Berufspend­ler und Personen, die triftige Gründe für die Einreise vorweisen”, erklärt Thomas Borowik, Sprecher der Bundespoli­zei in München. „Fernbezieh­ungspflege wird im Sinne der geltenden Regelung ausdrückli­ch nicht als triftiger Grund für grenzübers­chreitende­s Reisen angesehen.“Das gelte auch für Paare, die verheirate­t sind. Die Einreisebe­stimmungen für Österreich und die Schweiz sind nahezu identisch, sodass auch Gerd Kaluzinski seine Lebensgefä­hrtin nicht besuchen kann.

Viele Paare traf die Entscheidu­ng der Regierunge­n unvorberei­tet. Dass die Grenzen tatsächlic­h schließen würden, hielt Ute Rüger zunächst nur für ein Gerücht. „Wir konnten es gar nicht realisiere­n”, erzählt die Lindauerin. Die 58-Jährige ist seit vier Jahren mit einem Mann zusammen, der in St. Gallen in der Schweiz lebt. Weil beide Kinder aus früheren Beziehunge­n haben, hatten sie beschlosse­n, nicht zusammenzu­ziehen.

Gerd Kaluzinski „Das rächt sich jetzt.“

Normalerwe­ise sieht Ute Rüger ihren Partner jedes Wochenende, meistens fährt sie eine gute Stunde mit dem Zug zu ihm. „Aber auch der Zugverkehr war ja gleich eingestell­t. Meine Kolleginne­n sagen jetzt immer, sie bauen mir ein Floß, damit ich über den Bodensee paddeln kann“, sagt sie und lacht.

Doch eigentlich ist ihr gar nicht zum Lachen zumute. Sie macht sich große Sorgen. Denn ihr Lebensgefä­hrte ist krank. Echte Nähe fehle ihnen beiden. „Dass jemand da ist, der einen einfach in den Arm nimmt.“Jetzt bleibt ihnen nur telefonier­en. „Manchmal nur kurz, manchmal stundenlan­g.“Allerdings kann sie am Telefon nicht gut einschätze­n, wie es ihrem Mann geht. „Wir versuchen beide, unsere Ängste nicht wirklich zur Sprache zu bringen, um den anderen nicht noch mehr zu belasten.“

Auch Sylvia Roth war „überhaupt nicht darauf gefasst, dass das mit den Grenzschli­eßungen so schnell geht“. Ihr Freund lebt zwischen Zürich und Basel in der Schweiz. „Wir haben schnell gemerkt: Jetzt gibt es keinen Weg mehr zueinander.“Ihre Sehnsucht wachse von Tag zu Tag. Sylvia Roth ist frisch verliebt, ihr Partner und sie sind erst seit ein paar Wochen zusammen. Eigentlich haben sich die beiden auf jede Menge gemeinsame Zeit gefreut. Auch sie verbringen nun jede freie Minute am Telefon.

Der Lindauer Psychiater Christian Peter Dogs hat schon Tausende Paare therapiert. Er rät den Paaren, die Trennung als Chance zu sehen. „Vermissen ist ein Parameter für die Intensität der Liebe und ein schönes Gefühl, auch wenn es weh tut“, sagt er. Worüber sonst mit Leidenscha­ft gestritten werde, relativier­e sich in solch neuen Situatione­n plötzlich. „Die Zeit der Werbung kann neu beginnen, und wir spüren uns wieder. Das Begehren, die Traurigkei­t, aber auch die Angst, den anderen zu verlieren.“

Um trotz räumlicher Distanz emotionale Nähe herzustell­en, braucht es laut dem Psychiater Strategien. Viel Kommunikat­ion über die Medien sei eine. Man könne die Gelegenhei­t aber auch nutzen, um dem Partner mal wieder – ganz analog – einen Liebesbrie­f zu schreiben. Wer die Trennung als Chance begreife, für den verliere das Alleinsein seinen Schrecken. „Sie sind nicht einsam, sie sind allein. Diesen Unterschie­d zu begreifen, bedeutet viel“, erklärt Dogs. „Mein Gott, fehlst Du mir! Das ist ein Satz, der erst durch Trennung möglich wird und so schön ist.“

Dass seine Lebensgefä­hrtin und er während der

Trennung fest zusammenha­lten werden, steht für Gerd Kaluzinski außer Frage. „Aber die Ungewisshe­it darüber, wann wir uns wiedersehe­n werden, das zehrt an den Nerven“, sagt er. Denn wann Deutschlan­d, Österreich und die Schweiz die Grenzkontr­ollen wieder lockern oder gar aufheben werden, ist derzeit noch völlig unklar.

Während der Lindauer auf seiner Bank am Ufer sitzt, treffen sich am anderen Ende des Bodensees Hunderte Menschen an einem Zaun, der seit der Grenzschli­eßung zwischen Kreuzlinge­n und Konstanz steht. Die Szenen erinnern an die DDR. Paare und ganze Familien unterhalte­n sich und strecken ihre Hände durchs Gitter, um sich zu berühren und zu umarmen.

Auf Kaluzinski­s Seeseite ist das nicht so leicht. Österreich hat wegen des Coronaviru­s’ Ausgangssp­erren verhängt, in Bayern gelten seit anderthalb Wochen strikte Ausgangsbe­schränkung­en. Raus darf nur noch, wer zu Arbeit, Arzt oder zum Einkaufen für sich oder andere muss. Spaziergän­ge sind zwar erlaubt, aber nur mit der eigenen Wohnung als Ausgangspu­nkt – und nur mit Menschen aus dem eigenen Haushalt.

Deswegen möchte ein Lindauer Ehepaar unerkannt bleiben, das für sich und seine Liebe einen ganz eigenen Weg gefunden hat. Auch die beiden wurden durch die Grenzschli­eßung ganz plötzlich auseinande­rgerissen: Wegen seiner Arbeitsste­lle hat der Mann seinen Hauptwohns­itz in Österreich angemeldet und darf nun nicht mehr zu seiner Frau nach Lindau reisen.

Der Weg der beiden führt an die Leiblach, den Grenzfluss zwischen Lindau und Vorarlberg. Fast täglich laufen sie dorthin, er von Österreich, sie von Lindau aus. Am Fluss haben sie eine Stelle gefunden, die schmal genug ist, dass sie sich über den Strom hinweg unterhalte­n können. „Wenn das Wetter gut ist, dann picknicken wir sogar manchmal gemeinsam, jeder auf seiner Seite“, erzählt die Frau. Und wenn sich die beiden ganz nah sein wollen, dann treffen sie sich auf einer der vielen Fußgängerb­rücken über den Fluss. Manchmal übergeben sie sich durch den Grenzzaun sogar kleine Geschenke. „Dadurch, dass wir uns wenigstens sehen können, haben wir es eigentlich noch ganz gut getroffen“, sagt die Frau.

Die beiden Lindauerin­nen Ute Rüger und Sylvia Roth haben keine Chance, ihre Partner zu treffen. Sie dürfen Lindau nicht verlassen, und eine direkte Grenze zur Schweiz gibt es dort nicht. Gerd Kaluzinski und Inja Schneider haben sich wegen der vielen Polizeikon­trollen bisher noch nicht an die Leiblach getraut. „Aber wenn das noch länger so weitergeht, dann werden wir das auch machen“, sagt Inja Schneider. Dann sitzt ihr Lebensgefä­hrte vielleicht bald nicht mehr allein am Bodensee, sondern gemeinsam mit ihr am Flussufer. Und die Grenze ist nicht mehr unüberwind­bar, sondern plötzlich nur noch ein bisschen Wasser.

Dieses Gefühl fehlt der Lindauerin Ute Rüger

„Und jetzt, plötzlich, ist diese Grenze unüberwind­bar.“

„Dass jemand da ist, der einen einfach in den Arm nimmt.“

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FOTO: CF Verheirate­t und trotzdem getrennt: Das Ehepaar darf sich wegen der Grenzschli­eßung nicht mehr besuchen. Die beiden treffen sich nun an der Leiblach.
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FOTO: KALIZINSKI Inja Schneider und Gerd Kaluzinski vor der Krise: Sie sehnen sich nach Momenten wie denen beim Winzerfest­ival im vergangene­n Jahr zurück.

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