Eineinhalb Meter schützen vor Pest und Coronavirus
Was Experten heute raten, wusste man in Lindau schon im 16. Jahrhundert
- Ab und zu mal eine Pfeife rauchen und die Wohnung ausräuchern – so könne man sich vor der Pest schützen. Das rät der Lindauer Pestarzt Joh. Ulrich Oehler den Bürgern im 17. Jahrhundert. Hunderte Jahre später räuchert das Busunternehmen Funk seine Busse mit Zirbenholz aus. Der Blick in die Geschichtsbücher zeigt: Seuchen gab es immer, bei den empfohlenen Maßnahmen gibt es erstaunliche Parallelen. Vieles, was Verantwortliche gegen das Coronavirus unternehmen, kannte man in Lindau schon vor Jahrhunderten.
In Berlin entsteht gerade ein neues Krankenhaus. Nur für Covid-19Patienten. „Eigentlich ist das ein modernes Quarantänehaus“, sagt Werner Berschneider. So eines steht in Lindau schon seit 1586, nämlich das Rainhaus. Heute ist es ein Wohnprojekt, früher wurden dort, weit draußen im Grünen, gesunde Menschen einquartiert, in deren Familien oder Wohnungen die Pest ausgebrochen war. Dann mussten die Personen 40 Tage in den Gemäuern bleiben. Dann war klar, ob sie infiziert waren oder nicht. „Sie wurden eingesperrt und isoliert“, erklärt Berschneider. So sollte die Pest eingedämmt werden.
Berschneider ist Vorsitzender des Vereins „Kulturerbe Rainhaus“in Lindau. Im Gespräch mit ihm tauchen viele Parallelen zwischen früher und heute auf. Wer sich heute möglicherweise mit dem Coronavirus infiziert hat, oder wer in einem Risikogebiet war, dem können Ärzte und Gesundheitsämter häusliche Quarantäne verordnen. Das heißt dann: Die betroffenen Personen dürfen die Wohnung nicht verlassen und keine gesellschaftlichen Kontakte haben. „Eben wie früher im Rainhaus“, sagt Berschneider.
Dort habe es immer wieder Ausbruchsversuche gegeben, erzählt er. Menschen flohen aus dem Gebäude, sie wollten nicht unter Infizierten sein, oder sie nahmen die Gefahr nicht ernst. Dabei waren sie eine Gefahr für die Lindauer Bürger – immerhin hatten sie möglicherweise die Pest. Auch heute gehen viele Menschen fahrlässig mit der Gefahr vor dem Coronavirus um und treffen sich bei schönem Wetter überall in der Region. Trotz der Bitte, zu Hause zu bleiben. Auch deswegen gibt es in Bayern nun vorläufig sehr strikte Ausgangsbeschränkungen.
Im Lindauer Rainhaus sei im ersten Stock der Flur sehr breit. Breiter als üblich. „Einen riesengroßen Flur haben die gebaut“, sagt Berschneider. Nicht ohne Grund. Denn die Menschen sollten Abstand voneinander halten. Sie sollten sich wortwörtlich aus dem Weg gehen. Heute rät die bayerische Landesregierung, genügend Abstand zu halten. In einem Supermarkt in Enzisweiler müssen Kunden an der Kasse Abstand halten, in Restaurants müssen die Tische mindestens eineinhalb Meter voneinander entfernt stehen. Eineinhalb Meter - diesen Abstand kannten die Leute schon früher. Denn der Rattenfloh, einer der Hauptüberträger der Pest, könne so weit springen, sagt Berschneider.
Momentan sind in allen Apotheken Mundschutze und Desinfektionsmittel ausverkauft. Leute glauben oder hoffen, sich damit vor dem Virus
schützen zu können. Neu ist dieser Glaube nicht. Im Rainhaus hätten sich Ärzte und Bewohner die Nasen mit Kräutern bedeckt, erzählt Berschneider. Pestärzte haben bei der Behandlung von Patienten die Pestmaske, auch als Schnabeldoktormaske bekannt, getragen. Der lange Schnabel der Maske war gefüllt mit Duftstoffen wie Wacholder, Kampfer oder Gewürznelken. Diese sollten sie vor der Pest schützen.
Das Rainhaus war eines der letzten Pesthäuser in Europa. Gebaut hat es, auf Anweisung des Lindauer Patriziats, Hans Furttenbach. Furttenbach, selbst Patrizier, war viele Jahre Stadtbauer in Lindau und Onkel des berühmten Ulmer Architekten und Ratsherren Joseph Furttenbach. „Hans hat von Joseph viel gelernt“, sagt Berschneider. Es sei anzunehmen, dass Joseph öfter in Lindau war. Um 1620 wollte er nach Mailand reisen, musste aber an der damaligen Nordgrenze der Lombardei in einem kleinen Dorf 14 Tage in Quarantäne. Er saß in einem leeren Keller, seine Kleider wurden über dem Feuer geräuchert. Auch heute rät das RobertKoch-Institut zu einer 14-tätigen Quarantäne und regelmäßig Kleidung, Bettwäsche, Bade- und Handtücher gründlich zu waschen.
Die Parallelen zwischen damals und heute sind erstaunlich. Eines aber verblüfft Berschneider besonders. Damals hätten die Leute über die Pest überhaupt nichts gewusst. Sie haben einfach sorgfältig beobachtet und daraus ihre Schlüsse gezogen. Auch vieles zum Coronavirus ist noch unbekannt. Deshalb gilt auch heute: Beobachten, hinterfragen und die richtigen Schlüsse ziehen.