Zuhause ist nicht immer ein sicherer Ort
Experten gehen von einem Anstieg der häuslichen Gewalt aus – Frauen und Kinder sind besonders betroffen
- Zu Hause bleiben – für manche Frauen und Kinder in Lindau muss das wie eine Drohung klingen. Denn Zuhause ist für sie kein sicherer Raum. Es ist der Ort, an dem sie misshandelt und missbraucht werden. Behörden und Institutionen rechnen durch die Ausgangsbeschränkungen wegen der CoronaKrise mit einem Anstieg von häuslicher Gewalt. Doch es gibt Hilfe.
„Bei uns melden sich oft Frauen aus Familien, die ohnehin schon in einer schwierigen Situation sind“, sagt Claudia Donné, Vorsitzende des Lindauer Vereins Hilfe für Frauen in Not. „Jetzt kommt noch die Besonderheit der Isolation dazu.“Durch Kurzarbeit oder Jobverlust entstehe zusätzlich jede Menge Frust, weiß ihre Kollegin Susanne Gaide. Laut Polizei hat außerdem etwa die Hälfte der gewalttätigen Männer ein Suchtproblem. Und getrunken wird jetzt nicht in der Kneipe, sondern zu Hause.
Erst vergangene Woche hat Ingeborg Maiwald über das Kontakttelefon des Vereins der Anruf einer Frau erreicht, die sich in einer dramatischen Situation befand. „Da konnte ich nur noch die Polizei anrufen“, sagt sie. Insgesamt melden sich beim Verein derzeit noch nicht mehr hilfsbedürftige Frauen als vor der Corona-Krise. Die ehrenamtlichen Helferinnen vermuten aber, dass sich das bald ändert.
Etwa hundert Fälle von häuslicher Gewalt bearbeiten der Lindauer Polizist Matthias Kaiser und seine Kollegen pro Jahr. „Oft ist es eine lange Gewaltspirale“, sagt Kaiser. Im schlimmsten Fall steht am Ende dieser Spirale der Tod: Vor etwa einem Monat soll ein Mann in einem Lindauer Hotel seine Frau erstochen haben. Laut Kaiser war das Paar der Polizei bereits wegen gewalttätiger Streitigkeiten bekannt.
Sechs weitere Fälle von häuslicher Gewalt hat Kaiser im März bereits bearbeitet. Auch das sind nicht mehr als im Jahr zuvor. „Ich bin aber davon überzeugt, dass das jetzt ansteigt“, sagt er. Grausames Beispiel dafür ist China: In Wuhan, wo eine ganze Stadt unter Quarantäne stand, soll sich die Gewalt gegen Frauen und Kinder währenddessen verdreifacht haben.
Unklar ist, ob und wie sich dieser Anstieg in Lindau letztlich messen lässt. „Das Dunkelfeld wird jetzt wieder in den Fokus rücken“, sagt Kaiser. Denn wenn der Täter rund um die Uhr im Haus ist, haben Frauen oft nicht einmal Gelegenheit, Polizei oder Hilfsorganisationen anzurufen. Der fehlende Kontakt zur Außenwelt verhindert, dass Nachbarn, Freunde oder Verwandte ein Problem bemerken.
In Spanien etabliert sich aus diesem Grund gerade eine Initiative namens „Mascarilla 19“(Maske 19): Mit diesem Codewort können Opfer in jeder Apotheke auf ihre Situation aufmerksam machen. Apotheker verständigen dann den Notruf.
Für Frauen, die sich in akuten Notsituationen befinden, halten Claudia Donné und ihre Kolleginnen im Landkreis Schutzwohnungen bereit. Dort können Mütter auch mit ihren Kindern unterkommen. Das kommt etwa achtmal im Jahr vor. „Sollten sich die Fälle nun aber tatsächlich häufen, dann könnten wir ein Problem bekommen”, sagt Donné. Im Normalfall würde der Verein dann Hotelzimmer anmieten. Doch Hotels haben nun geschlossen.
Bei den meisten Frauen dauert es sehr lange, bis sie sich Hilfe holen. „Das passiert erst nach einem langen Leidensweg“, sagt Polizist Kaiser. Auch das Telefon von Hilfe für Frauen in Not klingelt meist erst dann, wenn die Situation daheim eskaliert. Dabei haben Frauen viel mehr Möglichkeiten, wenn sie sich frühzeitig Hilfe suchen. „Man kann bei uns ganz niederschwellig anrufen“, sagt Ingeborg Maiwald. „Wir hören uns die Situation dann erst einmal an. Ein entlastendes Gespräch können wir immer leisten.“
Die Frage sei dann, ob sich die Frau von ihrem Partner trennen wolle oder nicht. Wenn sie sich nicht trennen will, dann vermitteln die Ehrenamtlichen das Paar zum Beispiel an die Ehe- und Familienberatung im Landkreis. Wenn die Frau ihre Beziehung beenden möchte, dann helfen Donné und ihre Kolleginnen, die Trennung vorzubereiten.
„Ganz wichtig ist zum Beispiel ein eigenes Konto“, erklärt Ingeborg Maiwald. Das habe heutzutage längst nicht jede Frau. „Aber das braucht man, um das Kindergeld dorthin umzuleiten“, erklärt Claudia Donné. Sie rät Frauen außerdem, vor der Trennung von einem gewalttätigen Partner wichtige Dokumente wie die Heiratsurkunde herauszusuchen und mitzunehmen. „Dann kann die Frau noch agieren. Wenn sie sich zu spät meldet, dann kann sie nur noch reagieren.“
Bis eine Trennung tatsächlich vollzogen ist, dauert es meist lange.
„Im Durchschnitt gehen Frauen siebenbis zwölfmal zu ihrem Partner zurück, bevor sie den Absprung wirklich schaffen“, sagt Donné. Neben der psychischen und finanziellen Abhängigkeit seien Gründe dafür gemeinsame Kinder. „Die Partner sind oft narzisstische Persönlichkeiten, die sich gut darstellen können“, sagt Ingeborg Maiwald. Wenn der gewalttätige Partner das Sorgerecht für die Kinder bekomme, dann geben manche Frauen lieber auf und gehen zu ihm zurück.
Auch Kaiser sieht im Abhängigkeitsverhältnis einer Beziehung das „Dilemma“bei häuslicher Gewalt. „Und dann ist da noch die Tatsache, dass da ja mal etwas war.“Viele gewalttätige Männer entschuldigen sich nach der Tat reumütig bei ihrer Partnerin und beteuern die große Liebe. Ein Fall, der ihm besonders im Gedächtnis geblieben ist, habe sich über 15 Jahre hingezogen. „Honeymoon-Kinder“nennt Kaiser den Nachwuchs dieses Paares. „Immer nach der Versöhnung war neun Monate später ein Kind da.”
Laut Kaiser wollen etwa zwei Drittel aller misshandelten Frauen nicht, dass ihr Partner angezeigt wird. Andere hielten später dem psychischen Druck eines Strafprozesses nicht stand und verweigerten ihre Aussage. Dann kommen Täter oft davon, weil ohne Aussage des Opfers handfeste Beweise für eine Verurteilung fehlen.
Allerdings hält auch Kaiser es nicht immer für sinnvoll, gewalttätige Männer mit Geld oder Gefängnis zu bestrafen. „Oft leidet dann wieder die Frau darunter, weil sie dann keinen Unterhalt mehr bekommt.“Mehr Sinn mache es da, dem Täter zum Beispiel eine Therapie als Auflage zu geben. „Man sollte den Fokus mehr auf die Täterarbeit legen“, sagt Kaiser. Er selbst mache in diesem Bereich derzeit eine Ausbildung. „Es sollten sowohl Täter als auch Opfer behandelt werden. Nur so kann man das ein Stück weit durchbrechen.“
Sowohl bei Tätern als auch bei Opfern sei es extrem wichtig, dass der Kontakt mit einer professionellen Beratung innerhalb der ersten 72 Stunden nach der Tat erfolge. „Nur dann sind sie bereit, Hilfe anzunehmen“, sagt Kaiser. Seit vergangenem Jahr gibt es bei der Lindauer Polizei dafür eine eigene Interventionsstelle für proaktive Beratung, die eng mit dem Frauenhaus in Memmingen zusammenarbeite.
Es gibt auch Männer, die Opfer von gewalttätigen Partnerinnen werden. Zwar sind es viel weniger als Frauen. „Aber mehr, als man lange angenommen hat“, sagt Kaiser. Oft handle es sich dabei um ältere Paare, bei denen sich das Kräfteverhältnis zwischen Mann und Frau umgekehrt hat. Der Verein Hilfe für Frauen in Not hatte eine Zeit lang ein Männertelefon angeboten. „Da hat sich aber nie jemand gemeldet”, sagt Claudia Donné. Selbstverständlich könnten aber auch Männer bei ihnen anrufen.
Nicht nur Partner, auch Kinder sind gewalttätigen Eltern jetzt noch schutzloser ausgeliefert als zuvor. „Viele Frauen arbeiten in systemrelevanten Berufen, als Kassiererinnen und Krankenschwestern. Daheim
Ingeborg Maiwald vom Verein Hilfe für Frauen in Not sind dann die überforderten Väter“, sagt Ingeborg Maiwald.
Auch Christine Wörsching, Leiterin des Lindauer Kinderschutzbunds, kann sich vorstellen, dass während der Corona-Krise mehr Kinder als sonst Opfer von Gewalt werden könnten. „Ich glaube schon, dass die Situation jetzt eine große Herausforderung für Familien ist.“Eltern müssten nun ständig zwischen Homeoffice, Kinderbetreuung und Haushalt hin- und herspringen. „Ich glaube, dass vor allem kleinere Delikte zunehmen”, sagt sie. „Man verliert vielleicht schon bei kleinen Konflikten die Nerven, geht das Kind an.” Und ohne Schule, Kindergarten oder Kinderbetreuung fehlt auch hier soziale Kontrolle. „Aber man kann das immer vertuschen. Ob Corona oder nicht: Es dauert meistens eine ganze Weile, bis so etwas auffällt”, sagt Wörsching.
Laut Sozialministerin Carolina Trautner sind Hilfsangebote von der Ausgangsbeschränkung in Bayern nicht betroffen. „Selbstverständlich kann trotz der geltenden Ausgangsbeschränkungen die eigene Wohnung verlassen werden, um Hilfsangebote aufzusuchen“, schreibt sie in einer Pressemitteilung.
Beim Lindauer Jugendamt haben Mitarbeiter persönliche Kontakte auf ein Minimum reduziert. „Im Bereich unseres Sozialdienstes stellt uns die aktuelle Situation vor besondere Herausforderungen, denn gerade hier ist die persönliche Beziehung zu den jungen Menschen und ihren Familien ein ganz wichtiger Aspekt der täglichen Arbeit. Deshalb ist es für uns ganz wesentlich, dass wir und besonders die für uns in den Familien eingesetzten Fachkräfte engen telefonischen Kontakt zu den Familien halten, Unterstützungen anbieten und so auch besonders frühzeitig auf mögliche kritische Entwicklungen aufmerksam werden“, sagt Jugendamtsleiter Jürgen Kopfsguter. In besonderen Ausnahmesituationen, vor allem im Bereich des Kinderschutzes, seien Mitarbeiter unter Schutzvorkehrungen aber weiter persönlich vor Ort. „Maßnahmen zum Kinderschutz und dringend benötigte Leistungen sind also weiterhin gewährleistet“, schreibt das Landratsamt auf Nachfrage der LZ.
Der Kinderschutzbund ist unter der Woche jeden Vormittag erreichbar – telefonisch oder im VideoChat. „Wir bieten ein offenes Ohr an und nutzen dafür alle Medien, die es gibt“, sagt Christine Wörsching. Und die Mitarbeiterinnen von Hilfe für Frauen in Not versichern: In akuten Fällen machen sie auch ein persönliches Gespräch möglich. Dann halt draußen und mit viel Abstand.
„Ganz wichtig ist zum Beispiel ein eigenes Konto.“
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