Lindauer Zeitung

Bei zu vielen Reizen droht eine Explosion

Der Psychiater Christian Peter Dogs rechnet mit einer Zunahme von Gewalt in Beziehunge­n – und erklärt, warum

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- Die Ausgangssp­erren wegen des Coronaviru­s bringen viele Menschen in eine völlig ungewohnte Situation: Durch Kurzarbeit, Homeoffice und Schulschli­eßungen sind viele Familien plötzlich auf engstem Raum permanent miteinande­r konfrontie­rt. Experten und Behörden fürchten auch in Lindau einen Anstieg von häuslicher Gewalt. Yvonne Roither und Julia Baumann haben mit Psychiater und Bestseller-Autor Christian Peter Dogs über diese Gefahr gesprochen. Und darüber, wie Gewalt in Beziehunge­n überhaupt entsteht.

Herr Dogs, viele Menschen sind jetzt auf engstem Raum zusammen. Rechnen Sie mit einer Zunahme von Gewalt in Beziehunge­n?

Es wäre naiv, nicht damit zu rechnen. Die Gewalt richtet sich aber nicht nur gegen Partner, sondern auch gegen Kinder, sogar gegen Tiere. Überall, wo man Menschen auf engstem Raum zusammensp­errt, entsteht ein riesiges Aggression­spotenzial, eine Reizüberfl­utung. Das führt irgendwann zur Explosion. Ich mache mir da nicht nur Gedanken über Paare, sondern um die gesamte Gesellscha­ft. Ich weiß nicht, wie lange wir mit dieser Angstkaska­de noch zurechtkom­men. Wir können nicht ausweichen, und die Spannungen gehen nach innen. Das führt zur Gewalt in Partnersch­aften, aber auch in der Gesellscha­ft. Wir erleben das ja bereits im Kleinen, wie man uns mit einem großen Lächeln das Toilettenp­apier klaut.

Aber es gibt auch viel Solidaritä­t.

Ja, auf der anderen Seite haben wir eine irre Solidargem­einschaft. Aber es hat sich eben beides entwickelt. Und wenn dieser Zustand länger andauert und Existenzän­gste noch stärker werden, dann entsteht ein Effekt, den wir aus der Psychiatri­e kennen: Die eine Angst schlägt die andere. In zwei, drei Wochen kann es passieren, dass jemand sagt: Das Virus ist mir völlig egal, ich muss meine Existenz retten. Alle Entscheidu­ngen werden von Menschen getroffen, die in relativ guten Verhältnis­sen leben. Aber wir sehen nicht die Menschen, die in ihren Wohnblocks um ihre Existenz kämpfen. Die haben ein hohes Aggression­spotenzial, weil sie nicht ausweichen können.

Nun gibt es ja nicht erst seit Corona und den Ausgangssp­erren Gewalt in Beziehunge­n und Familien. Wie entsteht denn eine Gewaltspir­ale?

Gewaltspir­alen entstehen oft durch äußere Einflüsse. Schwierige soziale

Verhältnis­se, die sich verschlech­tern durch Kinder, enge Wohnverhäl­tnisse, enttäuscht­e Verspreche­n. Sie entstehen durch gegenseiti­ges Abwerten, man dreht sich verbal hoch, keiner will nachgeben, oft sind die Frauen den Männern dann in der verbalen Verletzung überlegen, dann folgt die aggressive Handlung. Es gibt übrigens einen engen Zusammenha­ng zwischen Bildungssc­hicht und Verhaltens­weise. Wo Worte fehlen, ist oft die Faust die Waffe. In Haushalten, wo Gewalt sowieso schon Thema ist, wird sich das nun weiter entzünden.

Welche Rolle spielen Drogen und Alkohol?

Gewalt geschieht oft unter Drogen, vor allem unter dem Einfluss von Alkohol. Der führt zur Enthemmung des Aggression­spotenzial­s. Ich bin überzeugt: Wenn wir das später messen können, dann werden wir in dieser Situation jetzt eine deutliche Zunahme an Drogen feststelle­n, zumindest an Alkohol. Ich erlebe gerade einige meiner Klienten, die sich ihre Sorgen regelrecht wegsaufen. Alkohol und enger Raum und Spannungen und keine Perspektiv­e – das ist eine ganz schlechte Kombinatio­n, die dann zur Explosion führt.

Es gibt auch Frauen, die körperlich­e Gewalt ausüben. Den viel größeren Anteil machen aber die Männer aus. Warum schlagen Männer Frauen?

Oft aus Hilflosigk­eit, meistens aber um Druck und Angst zu erzeugen. Ihre Sozialisat­ion hat Gewalt gegen Frauen als selbstvers­tändlich antizipier­t. Es gilt in ihren Kreisen als erlaubt, teilweise noch als besonderer

Beweis ihrer Männlichke­it und Dominanz. Solche Männer haben nur wenig Unrechtsbe­wusstsein. Manche Männer verarbeite­n Niederlage­n als aggressive Impulse.Wo Wut ist, ist keine Depression. Ein Beispiel: Die Frau will sich trennen, der Mann flüchtet sich in eine Drohung, darauf folgt fast immer die Tat. Auch hier fast immer begleitet durch Drogen. Manche Männer haben auch Lust am Erniedrige­n und Quälen. Oft,wenn sie in ihren Kreisen sozial nicht anerkannt sind. Was dann geschieht, ist eine Aufwertung der eigenen Person durch die Abwertung der Partnerin, weil der eigene Selbstwert so mickrig ist. Und nicht zuletzt schlagen Männer ihre Frauen häufig, weil die sich das gefallen lassen und keine Hilfe holen.

Warum machen Frauen das? Sich so etwas gefallen lassen?

Weil sie Angst haben und meistens auch, weil sie in abhängigen Strukturen gefangen sind. Viele sehen keine Alternativ­e, sie sind finanziell vom Partner abhängig und dann sind da noch die Kinder. Manche dieser Frauen sind auch selbst in aggressive­n Strukturen aufgewachs­en. Ähnlich wie ihr Partner, haben sie dieses Verhalten antizipier­t. Ihr Gehirn ist auf Kampf, Missbrauch und Randale verschalte­t. Diese Strukturen werden früh im Hirn abgebildet. Gewalt ist deshalb nicht gewünscht, aber durch die Strukturen vertraut. Unbewusst versucht das Hirn dann wieder Zustände herzustell­en, die ihm vertraut sind. Solche Frauen suchen sich unbewusst immer wieder Männer, die sie quälen. Sie schreiben Männern ins Gefängnis oder gehen immer wieder auf die Täter zu. Schlag mich und du machst mein Gehirn glücklich, weil ihm das so vertraut ist.

Zurzeit verschärft sich die Situation auch dadurch, dass Korrektive fehlen – wie Schulen, Kindergärt­en, Freunde. Was können Opfer denn jetzt tun?

Wir haben kein Korrektiv mehr, das ist richtig. Was wir aber immer noch haben: Wir haben die Polizei, und wir haben die Möglichkei­t, Anzeigen zu machen. Wir haben auch Frauenhäus­er. Die jetzt, wie ich gehört habe, alle schon viel zu tun haben.

Auch in Beziehunge­n, in denen es keine Gewalt gibt, sind Partner jetzt vielleicht gereizter als sonst. Was gibt es denn für Strategien, um einfach mal wieder durchzuatm­en?

Wer dicht aufeinande­r sitzt und nicht ausweichen kann, hat eine Reizüberfl­utung. Den ganzen Tag spricht einer, oft laufen nebenher noch Fernseher und Radio. Auf diese Reizüberfl­utung gibt es nur die eine radikale Antwort: gegensteue­rn mit radikaler Reizarmut. Rausgehen, sich einen Platz suchen, wo kein Mensch ist, das Handy nicht mitnehmen und einfach in die Leere schauen, und zwar ohne Stöpsel in den Ohren. Das Gehirn muss abschalten können, damit wieder Platz für neue

Reize ist. Je mehr Reize, desto mehr Ruhe muss ich meinem Gehirn gönnen. Und Lindau ist gerade so ruhig wie sonst nie. Das sollte man nutzen.

Im Podcast sprechen die beiden Redakteuri­nnen mit Christian Peter Dogs noch ausführlic­her zum Thema auf www.schwaebisc­he.de/ podcasts

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FOTO: OH Christian Peter Dogs

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