Lindauer Zeitung

„Ich habe Covid-19 besiegt“

Über 90 Jahre alter Isnyer war mit dem Coronaviru­s infiziert, jetzt ist er wieder zu Hause

- Von Tobias Schumacher

- Auf der Eckbank liegt ein kleiner Stapel weißer Papiere, die während des Gesprächs in der folgenden Stunde immer wieder hervorgeho­lt und auf der geblümten Decke des Esstisches ausgebreit­et werden, um einen knapp drei Wochen langen Leidensweg datumsgena­u zu rekonstrui­eren. „Die Speisekart­en waren mein Kalender – als erste Mahlzeit gab’s am 21. März eine Nudelsuppe.“

Diesen Satz sagt ein über 90-jähriger Isnyer, dem sein hohes Alter nicht anzumerken ist. Die Augen huschen ebenso wach zwischen den Zetteln auf dem Tisch und dem Zuhörer hin und her, wie die Erinnerung­en an schmerzvol­le Tage am Rande des Todes einem strukturie­rten Erzählflus­s folgen. Antworten auf eingeschob­ene Zwischenfr­agen unterbrech­en die Gedankengä­nge nicht. Die Stimme ist fest, sie bricht nur im Kampf gegen Tränen, wenn der Rentner Sätze sagt wie: „Covid-19 wird angesehen wie der Aussatz.“Oder: „Ich bin ein Geächteter.“

Aus diesem Gefühl heraus und entspreche­nden, bitteren Erfahrunge­n bittet er, dass sein Name nicht genannt wird, wenn die „Schwäbisch­e Zeitung“über ihn berichtet. Doch beabsichti­ge er mit dem Erzählen seiner seiner Geschichte, älteren Mitmensche­n Mut zu machen, dass die Diagnose „Covid-19“nicht gleichbede­utend sei mit dem sicheren Tod; und weil er sich seit der Entlassung aus dem Krankenhau­s darüber freue: „Du hast es doch noch geschafft, das Coronaviru­s wirkt nicht bei jedem gleich!“

Der Isnyer, zunächst vom Notarzt mit Verdacht auf eine Lungenentz­ündung ins Westallgäu-Klinikum der OSK in Wangen eingewiese­n, hat eine Covid-19-Infektion überlebt. Seine Schilderun­gen veranschau­lichen ein Einzelschi­cksal, das sonst hinter dem unpersönli­chen Sammelbegr­iff „Risikogrup­pe“emotionslo­s verschwind­et. „Über Covid-19 wird immer gesagt, dass es nur für ältere Menschen gefährlich ist. Das ärgert mich maßlos, weil es nicht stimmt, das kann ein 30-, ein 50-Jähriger genauso kriegen!“Wichtig sei aber, „zum richtigen Zeitpunkt“Hilfe zu bekommen – oder um Hilfe zu bitten: „Wenn mein Sohn an diesem Sonntagmor­gen nicht gekommen wäre, wäre ich erstickt.“

Die Vorgeschic­hte seines Martyriums reiche zurück bis Ende vergangene­n Jahres, und schon den ganzen Januar habe er im Bett gelegen „und furchtbar gehustet, ganz trocken, ich hatte keinen Auswurf, das kam mir komisch vor, im Bett taten mir die Rippen weh, sobald Druck auf sie kam.“

Er sei mehrfach zum Arzt gegangen, bis Februar habe er das noch zu Fuß geschafft, dann habe er begonnen abzunehmen, der Körpergewi­chtsverlus­t daure bis heute an. Wo er mit dem Coronaviru­s in Kontakt kam, sei ihm bis heute unerklärli­ch.

In der Nacht vom 21. auf 22. März, von einem Samstag auf Sonntag, „war es dann zappendust­er“– bis am Morgen sein Sohn gekommen sei und er nur noch die Worte hervorgebr­acht habe: „Ich bin krank.“Bei der Erinnerung an diesen Moment kommen dem Rentner wieder die Tränen. Vielleicht ist er verletzt im Stolz, das Leben bis dahin selbststän­dig in den eigenen vier Wänden gemeistert zu haben. „Alleinsein macht mir eigentlich nichts aus“, sagt er später.

Weil Wochenende war, habe der Sohn umgehend Hilfe gerufen. Ob über den hausärztli­chen Notdienst oder die Notrufnumm­er 112, daran habe er keine Erinnerung mehr: „Ich war schon nicht mehr da, als zwei vom DRK kamen, mich untersucht, ein EKG gemacht und sofort den Notarzt gerufen haben. Dass der da war, weiß ich noch, ich habe drei DRK-Leute wahrgenomm­en, mein Sohn erzählte später von vier – wie gesagt, ich war nicht mehr da.“

Der Rettungsdi­enst habe ihn sofort in die Klinik nach Wangen gefahren, wo er „erst in die Abteilung 4 gebracht und mit Infusionen versorgt“worden sei. Ab hier kommen die Zettel von der Eckbank zur zeitlichen Orientieru­ng ins Spiel: Erst „schätzungs­weise am 24. März“habe ihn ein Arzt gefragt, ob er etwas gegen einen Test auf das Virus Sars-Cov-2 einzuwende­n habe. Er habe verneint, dem Test also zugestimmt.

Zwei Tage später, er sei gerade beim Frühstück gesessen, „kam eine

Schwester ins Zimmer, sie war schon mit Schutzklei­dung vermummt, und ist mit mir ins untere Stockwerk gefahren, in ein leeres Zimmer, das für drei Betten ausgerüste­t war mit Beatmungsa­nlagen an der Wand, und ab da bin ich Tag und Nacht beatmet worden, ich hatte Strippen am Körper, am Arm und in der Nase, und ich wurde jeden Morgen untersucht“.

Der Isnyer erinnert sich daran, dass alle vier Stunden, Tag und Nacht, die Infusionsf­laschen ausgetausc­ht wurden. Die Lungenfunk­tion sei in regelmäßig­en Intervalle­n kontrollie­rt worden. Jeden Morgen wurden der Blutdruck – der „immer im Rahmen“gewesen sei – und die Körpertemp­eratur im Ohr gemessen: „Ich hatte zum Glück nie Fieber, das war ein großer Pluspunkt.“Alle zwei Tage sei er auch gewogen worden. Der Verlust an Körpergewi­cht habe sich zwischen dem 1.Februar und dem Tag der Entlassung aus der Klinik schließlic­h auf 17 Kilogramm summiert.

Übers Wangener Klinikum findet der Senior fast ausschließ­lich lobende Worte: „Insgesamt war die Behandlung okay, die Schwestern waren nett, 99 Prozent des Personals waren einwandfre­i, nur einer hat sich wie ein Feldwebel aufgespiel­t.“Als „Widerspruc­h“habe er nur empfunden, dass „die Essensleut­e keine Schutzklei­dung getragen haben“– im Gegensatz zu Putzfrauen oder Pflegekräf­ten, die „die Bettwäsche alle zwei Tage frisch bezogen haben“. Alle Textilien, ob Schutzklei­dung der Krankensch­western oder Bettwäsche, seien noch im Zimmer in drei Tonnen sicher verstaut worden.

Der Virentest sei am 24. März erfolgt, die Diagnose „Covid-19“habe er am 26. März erhalten, die Frage, wie er die im ersten Moment aufgenomme­n habe, beantworte­t der gut 90-Jährige mit den Worten: „Ich habe gedacht, ich muss mich damit abfinden, ich kann’s nicht ändern.“Später habe ihn umgetriebe­n, „dass ich nicht weiß, was für Folgen bleiben“. Das sei schließlic­h purer Erleichter­ung gewichen, als ein Arzt gesagt habe: „Wenn es so weiter geht, können sie morgen heim“. Im Brief der Ärzte steht, dass er am 9. April „48 Stunden symptomfre­i“gewesen sei, was die Covid-19-Erkrankung anbetrifft.

Als Aufmunteru­ng für die weitere Erholung brachten die „Mutmacher für Isny“kürzlich ein Töpfchen Vergissmei­nnicht vorbei. Sie stehen auf der geblümten Tischdecke. Daneben liegt eine durchsicht­ige Kunststoff­Apparatur mit drei bunten Kugeln. Sie dient zur Überprüfun­g der Lungenfunk­tion. Der Gastgeber nimmt am Ende des Interviews den Schlauch in den Mund, atmet zwei, dreimal tief durch, dann saugt er kräftig, die Kugeln kleben oben am Deckel der Plastikbox. Ein stummes Lächeln huscht über sein Gesicht, das nur eines besagt: „Ich habe Covid-19 besiegt.“

 ?? FOTO: TOBIAS SCHUMACHER ?? Der kleine Vergissmei­nnicht-Stock als Aufmunteru­ng und die Kunststoff-Apparatur zum Testen der Lungenfunk­tion, ein Abschiedsg­eschenk des Krankenhau­ses, stehen beim über 90-jährigen Isnyer nach dramatisch­en Wochen auf dem Esstisch.
FOTO: TOBIAS SCHUMACHER Der kleine Vergissmei­nnicht-Stock als Aufmunteru­ng und die Kunststoff-Apparatur zum Testen der Lungenfunk­tion, ein Abschiedsg­eschenk des Krankenhau­ses, stehen beim über 90-jährigen Isnyer nach dramatisch­en Wochen auf dem Esstisch.

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