Lindauer Zeitung

Traktorfah­ren und Wodka statt Lockdown

Während fast die ganze Welt zuhause bleiben soll, läuft in Weißrussla­nd fast alles wie gewohnt – das hat politische Gründe

- Von Varvara Podrugina

- Waleria Lasarewa macht sich Sorgen. Die junge Studentin und Journalist­in wohnt im nordrussis­chen Sankt-Petersburg, kommt aber ursprüngli­ch aus Weißrussla­nd. Im Unterschie­d zu anderen Ländern gibt es dort keinen offizielle­n Lockdown, die meisten Bürger müssen wie immer zur Arbeit. Lasarewa sorgt sich deshalb um ihre Verwandten und Freunde in der Heimat. „Sie befürchten, etwas im Land offen zu kritisiere­n“, sagt sie. „Wir telefonier­en oft mit meiner Oma, die dort lebt. Alle tun, als wäre alles in Ordnung.“Aber sogar die ältere Generation, zu der Lasarewas Oma gehört und die fast alle Informatio­nen nur aus staatliche­n Fernsehsen­dern bekommen, fühle sich schon unruhig.

Das Hauptprobl­em sei, dass Ältere dort viel stärker bedroht seien, als zum Beispiel in Deutschlan­d. Ihre Gesundheit werde durch die Strahlung seit Jahrzehnte­n geschädigt, erklärt Lasarewa: „Die Tschernoby­lZone liegt in der Nähe des Gebiets, in dem meine Oma wohnt. Und jetzt sind die Wälder in der Sperrzone wieder in Brand, und der Wind trägt radioaktiv­e Partikel herum.“Außerdem seien Ältere in Weißrussla­nd durch lebenslang­e und sehr schwere Arbeit erschöpft, sagt Lasarewa. „Das bemerke ich immer, wenn ich meine Oma sehe und ihr Aussehen mit dem älterer Europäer vergleiche.”

Der weißrussis­che Präsident Alexander Lukaschenk­o sieht das völlig anders. Er sagt, Weißrussla­nd sei das einzige Land, das „die herausrage­nde sowjetisch­e Gesundheit­sinfrastru­ktur“habe. Niemand solle ihm deshalb empfehlen, wie Weißrussla­nd mit dem Coronaviru­s umgehen soll: „Alle kritisiere­n uns, aber sie haben überhaupt keine Ahnung, wie wir hier leben“, sagt er. Die Pandemie bezeichnet­e er zunächst als „Massenpsyc­hose“, nannte dann aber Mittel, um das Virus zu beseitigen: Hände waschen, Butter essen, Wodka trinken – und Feldarbeit mit dem Traktor.

Heute gibt es bei uns zwei extreme Positionen, erklärt der weißrussis­che Journalist Igor Kot: „Einerseits

sagt das Gesundheit­sministeri­um, alles sei unter Kontrolle. Die Behörden haben für eine lange Zeit die echten Zahlen der Infizierte­n verborgen. Das hat das Vertrauen in sie erschütter­t. Der Präsident macht es noch schlimmer, wenn er einfach nicht an die Gefahr glaubt und stattdesse­n empfiehlt, sich mit einem Traktor zu heilen.“Anderersei­ts gebe es viele Gerüchte über Hunderte Kranke und Lager mit Tausenden Infizierte­n. Das sei zwar total unbegründe­t, sagt Kot – aber wegen mangelnder offizielle­n Angaben glaubten es viele Bürger.

Nach den Angaben des Gesundheit­sministeri­ums sind bisher 99 Menschen in Weißrussla­nd an Covid-19 gestorben, insgesamt gibt es schon mehr als 16 700 Coronaviru­sInfektion­en. In Wahrheit können die Zahlen allerdings viel höher sein. Selbst wenn sie es nicht sind: 16 700 Infizierte sind zu viele, als dass man sie ignorieren könnte. „Nun haben die Behörden die Kranken und ihre nächsten Verwandten aufgeforde­rt, sich selbst zu isolieren. Das könnte bedeuten, dass es keine Betten mehr in den Krankenhäu­sern gibt”, glaubt Kot.

Einen Lockdown gebe es aber nicht, fügt er hinzu: „Ich glaube, der wird nicht kommen, einfach weil Weißrussla­nd dafür kein Geld hat. Steuerentl­astungen und Sozialleis­tungen würden den Etat sehr schnell verwüsten.”

Das wiederum kann sich Lukaschenk­o politisch nicht leisten: Bis zum 30. August soll im Land die Präsidents­chaftswahl stattfinde­n. Lukaschenk­os Wahlkampag­ne soll nicht durch eine Wirtschaft­skrise behindert werden.

Mehrmals hat er, betont, dass Lockdown, häusliche Quarantäne oder weitere Kontaktbes­chränkunge­n nicht die richtige Lösung für Weißrussla­nd seien: „Die Pneumonie wird vorbeigehe­n, aber Brot wird man immer brauchen.“Wie in allen Diktaturen sei für Lukaschenk­o das Leben von jedem Bürger nicht so wichtig wie seine Chancen auf die Präsidents­chaft, zitiert der vom Kongress der USA finanziert­e Radio Liberty den weißrussis­chen Journalist­en Igor Ilyasch.

Während im Großteil der Industrie, der Landwirtsc­haft und des Handels also alles wie immer läuft, lassen einige Firmen – wenn sie es

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FOTO: SERGEI GAPON/AFP Weiter, immer weiter: Auch die Spiele der obersten Fußball-Liga finden in Weißrussla­nd trotz der Coronaviru­s-Epidemie weiter statt. Im Bild ein Fan des Hauptstadt­klubs FC Minsk.

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