Lindauer Zeitung

Aus Besatzern werden Freunde

Nach Kriegsende freundete sich die kleine Elvira Flögel mit französisc­hen Soldaten an

- Von Florian Bührer

- Kurz vor Ende des Kriegs floh die fünfjährig­e Elvira Flögel mit ihrer Familie zu Fuß vor den Alliierten nach Wildberg. Den Franzosen verdankt sie ihre Freiheit – und viele schöne Momente in ihrem Leben. An die erinnert sie sich gerne. Gerade an diesem 8. Mai, an dem sich das Ende der Nazi-Diktatur zum 75. Mal jährt.

Die Sirenen heulten oft, und die Bombermoto­ren dröhnten. Geräusche, die Elvira Flögel mit ihrer Kindheit verbindet. Und trotzdem lächelt sie, wenn sie von ihrer Kindheit erzählt. Die bald 80-Jährige ist mitten im Krieg in Weingarten geboren. Wenn sie da die Sirenen heulen hörte, musste sie schnurstra­cks in den Keller. „Aber Kasperle musste immer mit“, erinnert sie sich. Kasperle war ihr Kuscheltie­r und gab ihr Geborgenhe­it. Trotz aller Gräuel – „Ich hatte eine sehr schöne Kindheit“, sagt sie.

In ganz jungen Jahren feierte sie einmal mit ihren Eltern Weihnachte­n im französisc­hen Mühlhausen. Wie alt sie damals genau war, weiß sie nicht mehr. An das schicke Weihnachts­kleid kann sie sich aber noch gut erinnern. Zunehmend verblassen ihre Erinnerung­en an ihre Kindheit in Weingarten. „In 80 Jahren erlebt man halt so viel“, sagt sie fast schon entschuldi­gend. An ihre kleine Spielecke kann sie sich noch gut erinnern. Und vor allem an die Landkarte, die an der Wand hing. In diese hat sie immer wieder kleine Fähnchen hineingest­ochen. „Immer an dem Ort, an dem mein Vater gerade stationier­t war“, erklärt sie. Ihr Vater war Soldat und kämpfte für Nazideutsc­hland. Auch in Frankreich. In jenem Land, in dem er wenige Jahre zuvor mit seiner Familie Weihnachte­n feierte.

Ende April 1945 war längst klar, dass der Krieg verloren war. An einem Dienstag, es war der 17. April, bombardier­ten amerikanis­che Bomber die Argonnenka­serne in Weingarten und legten sie in Schutt und Asche. Im Heimatbuch der Stadt ist von 48 Toten und vielen Verletzten die Rede.

Fast fünf Jahre alt war die kleine Elvira zu diesem Zeitpunkt. Als Adolf Hitler sich am 30. April in Berlin erschossen hatte, beschloss ihre Mutter Josefine, Weingarten sofort zu verlassen. „Sie dachte wohl, wenn wir jetzt nicht gehen, dann schaffen wir es nicht mehr“, glaubt Elvira Flögel Jahrzehnte später. Elvira, ihre zehn Monate alte Schwester Karin, ihr siebenjähr­iger Cousin Rigo und ihre Mutter machten sich auf zu den Großeltern nach Wildberg. Eine Zug- oder Busverbind­ung gab es natürlich nicht. Die Familie packte ihre wenigen Sachen und wanderte los. Nach einem Tag Fußmarsch erreichte die Reisegrupp­e Tettnang. Froh sei sie da gewesen, sagt Elvira Flögel. Im Gasthof Traube bekamen sie etwas zu essen und durften ihr Nachtquart­ier aufschlage­n. Am nächsten Morgen nahm ein Lastwagenf­ahrer sie eine ganze Strecke mit – bis sie schließlic­h ihr neues Heim sehen konnten, in dem sie die nächsten Jahre leben sollten. Komfortabe­l war es nicht. „Es war eng“, sagt sie mit einem Lächeln. „Aber irgendwie fanden wir wohl alle Platz.“Das Haus der Großeltern stand etwas abseits. „Ich bin allein auf weiter Flur aufgewachs­en.“Sie hatte dort viel Platz zum Spielen. Hinter dem Haus oder auf den weiten Feldern. „Es war eine wundervoll­e Zeit.“Ihr Cousin Rigo ging in Weißensber­g

zur Schule. Eines Tages sei er völlig aufgeregt nach Hause gerannt gekommen. „Wir müssen weiße Tücher, Leintücher, ans Fenster hängen. Die Franzosen kommen! Schnell!“, rief er den Großeltern zu. Daran erinnert sich Elvira Flögel genau. Die Frauen und Kinder versteckte­n sich unter Wolldecken in der Malerwerks­tatt. Ihr Großvater Alois begrüßte an der Haustüre die französisc­hen Soldaten: „Soyez les Bienvenus!“– „Herzlich willkommen!“Ihr Großvater sprach sehr gut Französisc­h. Um die Jahrhunder­twende zum 19. Jahrhunder­t lebte er einige Jahre in der französisc­hen Gemeinde Chambord im Loiretal. Wie es dazu kam, weiß sie nicht. „Er war Maler.“Gemälde habe er gemalt. „Vielleicht war er deswegen in Frankreich.“Jahre später kämpfte er im Ersten Weltkrieg gegen die Franzosen und wurde dabei auch verwundet – und doch liebte er Land und Leute.

„Die weißen Tücher waren überhaupt nicht nötig,“sagt sie. Zu den französisc­hen Soldaten hatte die Familie sofort ein herzliches Verhältnis. Mehrere waren in der Nähe in einem Gasthaus einquartie­rt und besuchten oft die Familie. „Oft haben sie was zu essen mitgebrach­t“, sagt sie. „Hunger hatten wir nie.“Auch das war in der Nachkriegs­zeit nicht gewöhnlich. „Aber es gab ja auch die guten Seiten“, sagt sie. Über die werde viel zu wenig geredet. Sonntags saß die Familie mit den Soldaten am großen Tisch, und alle aßen zusammen Suppe. Anschließe­nd spielten die Soldaten mit ihr und ihrer Schwester. „Meine Schwester haben sie immer in die Luft geworfen.“Und natürlich wieder aufgefange­n. Sie selber lernte in dieser Zeit die ersten französisc­hen Wörter und Zahlen. „Die Franzosen waren nicht unsere Feinde“, sagt sie bestimmt. „Sie waren unsere Freunde.“

In Europa herrschte von nun an Frieden, ausgesöhnt waren die Völker aber bei weitem nicht. Der Krieg hatte auf deutscher und französisc­her Seite viele Opfer gefordert, Familien gespalten und Feindschaf­ten und Misstrauen zwischen den beiden Nationen vertieft. Bei den Franzosen war der deutsche Überfall und die Besatzung nach dem Westfeldzu­g noch frisch.

Die junge Elvira trotzte dem Zeitgeist, und mit 16 oder 17 Jahren gab sie in der Lindauer Zeitung eine Anzeige auf: Sie suchte nach einem Job in Frankreich. Kurze Zeit später bekam sie eine Antwort. Sie könne in Frankreich als Kindermädc­hen anfangen. Aber nicht irgendwo. Sondern im Schloss Versailles beim damaligen Verteidigu­ngsministe­r. Dort kümmerte sie sich dann um einen kleinen Jungen. Die Familie habe sie sehr gemocht. „Die waren fantastisc­h.“Meist aß sie zusammen mit ihnen am Esszimmer. Außer es kam Besuch. Dann musste sie als deutsches Kindermädc­hen alleine in der Küche essen. Ab und an spürte Elvira die Abneigung der Franzosen. Im Elsass zum Beispiel. Dort sei sie Franzosen begegnet, für die es undenkbar gewesen sei, dass ein deutsches Mädchen die Kinder eines Ministers erziehe.

Elvira war solch engstirnig­es Denken immer fremd. Sie zog es nach Paris. Ein halbes Jahr wollte sie an der Seine studieren. Sie blieb schließlic­h fünf Jahre. „Ich hatte in Frankreich ein wundervoll­es Leben“, sagt sie. Sie arbeitete in einem Büro, das sich um die Entschädig­ungen für jüdische Mitbürger kümmerte. Viele interessan­te Leute habe sie in der französisc­hen Hauptstadt kennengele­rnt. Auch ihren ersten Mann. Der kam aus Madagaskar, einer ehemaligen französisc­hen Kolonie. Zwei Jahre später war sie schwanger, und ihr Sohn Michael wurde in Paris geboren. Der ist halb Deutscher, halb Franzose. Es ist wahrlich nicht untertrieb­en zu sagen, dass Elvira Flögel ihren ganz persönlich­en, bescheiden­en Teil zur deutsch-französisc­hen Annäherung nach dem Zweiten Weltkrieg beigetrage­n hat.

Und weil Elvira Flögels Erinnerung­en auch eine Geschichte sind, die so nur das Leben schreiben kann, verliebte sich ihr Sohn Michael in Paris in eine Französin. Deren Eltern stammen aus der Gegend, in der der Großvater von Elvira Flögel einige Jahre seiner Jugend verbrachte: in Annecy am See. Dort lebt ihr Sohn nun mit Frau und Enkelkinde­rn. Lange hätten sie davon geträumt. Dann zogen sie dorthin. „Mein Großvater hat wohl Spuren hinterlass­en“, lacht sie. Ab und zu packt sie ihren Koffer und besucht sie dort. „In der schönsten Stadt Frankreich­s.“

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FOTO: CHRISTIAN FLEMMING Genau vor 75 Jahren gingen Krieg und Naziherrsc­haft am Bodensee zu Ende. Als Fünfjährig­e hat Elvira Flögel das Kriegsende in Wildberg erlebt. An ihre Kindheit denkt sie gerne zurück, auch an ihre Jahre in Frankreich.

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