Lindauer Zeitung

Was er erlebte, ließ ihn nie mehr los

Eine Biografie zum 100. Geburtstag des letzten überlebend­en Nürnberger Chefankläg­ers

- Von Sibylle Peine

In Ausübung meiner scheußlich­en Aufgabe kam ich mir vor wie ein Arzt auf dem Schlachtfe­ld, ohne Zeit für Gefühle. Ich kann mich nicht erinnern, wütend gewesen zu sein oder gegen Tränen angekämpft zu haben; was ich fühlte, war lediglich eine gefühlsmäß­ige Taubheit und völliger Unglaube.“Ben Ferencz hat die Schreckens­bilder aus Mauthausen, Dachau oder Buchenwald nie vergessen. Als junger Soldat der US-Armee war er damit beauftragt, Beweismate­rial für die Kriegsverb­rechen der Deutschen zu sammeln.

Was er erlebte, sollte ihn nicht mehr loslassen: „Die Bilder hinterließ­en einen unauslösch­lichen Eindruck“, schreibt er in seinem berühmten Buch „Lohn des Grauens“. Die Sühne der deutschen Kriegsverb­rechen wurde zu seinem großen Lebensthem­a. Ferencz ist heute der letzte überlebend­e Chefankläg­er der Nürnberger Prozesse, von 1947 bis 1948 leitete er die sogenannte­n „Einsatzgru­ppen-Prozesse“gegen 24 SSFührer wegen tausendfac­her Morde in der Sowjetunio­n. Am 11. März konnte der amerikanis­che Jurist seinen 100. Geburtstag begehen.

Die historisch­e Rolle dieses Jahrhunder­tzeugen geht über die Bedeutung der damaligen Kriegsverb­recherproz­esse hinaus. Denn Ferencz fügte nicht nur den Begriff „Genozid“in die Gerichtspr­axis ein, er gilt auch als einer der Geburtshel­fer des

Internatio­nalen Strafgeric­htshofs. Mit fast 90 Jahren eröffnete er 2009 symbolisch das erste Plädoyer der Anklage des Gerichts in Den Haag. Der Historiker und Journalist Philipp Gut hat nun ein lebendiges Porträt des ehemaligen Chefankläg­ers vorgelegt.

Seine Biografie würdigt nicht nur die große Lebensleis­tung dieses einzigarti­gen Zeitzeugen des monströsen 20. Jahrhunder­ts. Auch der außergewöh­nliche Charakter des klein gewachsene­n Mannes – Ferencz misst kaum mehr als 1,50 Meter – wird deutlich: Geradlinig und unkorrumpi­erbar ist er bei allen niederschm­etternden Erfahrunge­n doch immer ein Menschenfr­eund geblieben. Dafür steht dieses Zitat: „Den Standpunkt des Mitmensche­n zu verstehen, egal, wie sehr du auch von ihm abweichst, ist eine unschätzba­re Fähigkeit, die manchmal hilft, das Leben erträglich zu machen.“Auch sein Urteil über das Volk der Täter blieb differenzi­ert: „Ich bin persönlich überzeugt, trotz der Konzentrat­ionslager und anderer Schrecken, deren Zeuge ich wurde, dass es Millionen von Deutschen gibt, die gute Menschen sind.“

Ferencz wurde 1920 im damaligen ungarische­n Siebenbürg­en als Sohn orthodoxer Juden geboren. Nach der Emigration der Familie in die USA wuchs er in bescheiden­en Verhältnis­sen in New York auf. Er ergatterte eine Ausbildung an einer der renommiert­esten Highschool­s des Landes, studierte Jura und assistiert­e dann einem Professor bei einem Buch über deutsche Kriegsverb­rechen. Dies wurde zur entscheide­nden Weichenste­llung für sein Leben.

Kurz nach dem Krieg fanden die Amerikaner einen Leitz-Ordner mit „Ereignisme­ldungen aus der UdSSR“. Mit deutscher Gründlichk­eit waren darin die Verbrechen der SS-Einsatzgru­ppen gegen Juden, Sinti und Roma sowie russische Kriegsgefa­ngene in der besetzten UdSSR aufgeliste­t. Diese Meldungen wurden die Grundlage für den „Einsatzgru­ppen-Prozess“, den Ferencz als Chefankläg­er mit gerade einmal 27

Jahren leitete. In keinem anderen Nürnberger Prozess wurden so viele Todesurtei­le gesprochen – es waren 14, von denen allerdings einige später in Haftstrafe­n umgewandel­t wurden. Deprimiere­nd waren die Lügen, Ausflüchte und Entschuldi­gungen der SS-Männer im Prozess, am schlimmste­n aber die Komplizens­chaft von Teilen des deutschen Volkes, die die Freilassun­g der Mörder forderten.

Obwohl das Land ihn bedrückte, blieb Ferencz noch länger in Deutschlan­d: Die Wiedergutm­achung enteignete­r und geschädigt­er Juden und Zwangsarbe­iter war eine weitere wichtige Aufgabe für ihn. Ferencz lebt heute bei New York und überrascht­e den Autor noch im vergangene­n Jahr mit seiner unglaublic­hen Vitalität. Obwohl ihm vier Stents eingesetzt worden sind, macht „der kleine große Mann“noch täglich Sport, er twittert, schreibt E-Mails in alle Welt und hat einen vollen Terminkale­nder. Vor allem ist er nach wie vor neugierig. „Die Zukunft, getrieben durch die Revolution der Informatio­nstechnolo­gie, ist heute unvorstell­bar. Ich bedaure, dass ich nicht mehr so lange auf der Erde herumlunge­rn kann, um zu sehen, wie alles läuft. Ich wünsche der Welt viel Glück!“(dpa)

Philipp Gut: Jahrhunder­tzeuge Ben Ferencz, Piper-Verlag. 345 Seiten. 24 Euro.

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FOTO: BENJAMIN FERENCZ Der Chefankläg­er Ben Ferencz in seinem Büro im Nürnberger Justizpala­st, 1948.

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