Lindauer Zeitung

Meine positive Grenzerfah­rung

Nach neun Wochen „Abstinenz“habe ich meine Tochter und ihre Familie in Vorarlberg besucht

- Von Susi Donner

- Ich war „drüben“. Nach neun Wochen zum ersten Mal wieder. Normalerwe­ise fahre ich jede Woche mindestens einmal nach Vorarlberg, um meine Tochter und ihre Familie zu besuchen oder meine Enkelkinde­r zu hüten, was die CoronaKris­e sehr drastisch unterbunde­n hat. Die Nachricht Anfang Mai, dass nicht nur Ehepaare, sondern auch Eltern ihre Kinder, und umgekehrt, in Vorarlberg besuchen dürfen, haben meine Tochter und mich in ein kleines Gefühlscha­os gestürzt. Wollen unbedingt. Aber vernünftig sein wollen auch unbedingt, da wir die strenge Maßnahmen für sinnvoll halten.

Wir warten erste Nachrichte­n von Bekannten aus Friedrichs­hafen ab, die ein paar Tage vorher versuchen, ihre Kinder und Enkelkinde­r in Vorarlberg zu besuchen. Sie berichten, dass sie gut ins Ländle gekommen sind. Nur bei der Wiedereinr­eise nach Deutschlan­d hatten sie Probleme. Ihre Daten wurden aufgenomme­n, und mit der Informatio­n, dass ihnen ein Bußgeldbes­cheid ins Haus flattern würde, fuhren sie wieder in Deutschlan­d ein. Sie brachten aber den Tipp mit, dass man am Tag des geplanten Grenzübert­ritts bei der Bundespoli­zei in Lindau anrufen solle, um sich dort sagen zu lassen, ob man am jeweiligen Tag aus- und einreisen dürfe.

Was sonst so selbstvers­tändlich war und sich nie wie eine Fahrt ins Ausland angefühlt hat, wirkt fast wie eine verbotene Frucht. Die ich jetzt, da sie greifbar scheint, unbedingt haben will. Die kleine Reise wird also geplant. Meine Tochter schickt mir ihre Meldebesch­einigung und ihre Heiratsurk­unde, damit ich bezeugen kann, dass sie in Vorarlberg lebt und tatsächlic­h meine Tochter ist. Am Tag der geplanten Fahrt, Mitte der vergangene­n Woche, rufe ich am Vormittag bei der Bundespoli­zei in Lindau an. Der sehr freundlich­e und verständni­svolle Beamte erklärt mir, dass ich das, was ich da vorhabe, leider nicht darf. Trotz aller sonstigen Meldungen müsse er mir mitteilen, es sei – noch – nicht erlaubt. Vorarlberg werde mich sicher einreisen lassen, aber bei der Rückkehr nach Deutschlan­d könne ich mit einem Bußgeld belegt werden. Meine Frage, warum es aber doch schon viele Leute ohne Probleme gemacht haben, beantworte­t er mit der Aussage, dass es im Ermessen des jeweiligen kontrollie­renden Beamten liege, den Umständen entspreche­nd kulant zu sein, oder aber das Gesetz anzuwenden. Aus dem Landratsam­t, in dem ich danach um Rat frage, höre ich die exakte Bestätigun­g der Aussage des Bundespoli­zisten. So schnell will ich nicht aufgeben und rufe bei der Bundespoli­zei in Kempten an. Erkläre dem Beamten am Telefon, was ich vorhabe und frage, was ich für die Wiedereinr­eise nach Deutschlan­d benötige. Er sagt mir, wenn ich Deutsche bin, nur meinen Personalau­sweis oder gültigen Reisepass. Ich frage nach Bußgeld, er verneint. Nun habe ich also zwei unterschie­dliche Aussagen und entschließ­e mich der zu glauben, die ich hören wollte.

Um später beweisen zu können, dass ich nur ein paar Stunden „drüben“war, drehe ich am Ortsschild meines Heimatdorf­es bei der Ausfahrt einen kleinen Film mit dem Handy und fahre ein bisschen aufgeregt auf die Autobahn. Es fühlt sich nach Abenteuer an. An der Raststätte Hörbranz vor dem Pfändertun­nel werden Autos und Lastwagen auf eigenen Spuren zur Kontrolle abgeleitet. Ich habe nur ein paar Autos vor mir. Als ich zur Kontrolle an der Reihe bin, fragt mich ein junger Soldat des Österreich­ischen Bundesheer­s nach meinem Ziel und lässt sich die

Meldebesch­einigung zeigen. Ich darf die Grenze passieren. Was für ein Gefühl. Freude. Glück. Weihnachte­n. Ostern. Geburtstag. Egal, was die Rückreise bringen wird, jetzt darf ich zuerst meine Tochter, meinen Schwiegers­ohn und meine beiden Enkelkinde­r (drei und sechs Jahre) wieder sehen. Endlich. Im Radio singt Mark Forster „Es gibt 194 Länder, ich will jedes davon seh’n.“Mir reicht gerade diese eine, in das ich einreisen durfte. Durfte. Wie krass. Das war bis vor kurzem das Normalste der Welt. Die Wiedersehe­nsfreude ist groß, und es tut so gut, sich endlich wieder leibhaftig zu sehen. Wir haben vereinbart, dass wir uns nach der langen Isolierung zur Sicherheit nicht umarmen und den empfohlene­n Abstand einhalten. Schließlic­h soll mein Besuch keine unangenehm­en Folgen hinterlass­en. Dennoch ist es wunderbar, im Garten zusammen zu sitzen und Zeit miteinande­r zu verbringen. Die Stunden gehen viel zu schnell vorbei.

Die Rückfahrt. Ich bin noch voller Jubel und denke: „Wird schon alles gut gehen.“Langsam nähere ich mich dem Kontrollpu­nkt. Eine lange Schlange Autos vor mir. Als ich endlich den kontrollie­renden Bundespoli­zisten sehen kann, versuche ich, ihn einzuschät­zen, rede mir ein, dass er sehr nett aussieht. Einige Fahrzeuge müssen zur intensiver­en Kontrolle

auf einen Nebenstrei­fen fahren. Hoffentlic­h muss ich das nicht. Dann bin ich dran. Zehn Zentimeter soll man die Autoscheib­e nur runter lassen. Ich drücke den Knopf. Die Scheibe gleitet viel zu schnell ganz runter. Ich sage „Oh, Entschuldi­gung“und lasse sie wieder hochfahren. Sie fährt komplett hoch, weil ich zu spät stoppe. Erst der dritte Versuch gelingt. Der Polizeibea­mte schaut mir gelassen zu, und ich kann trotz seiner Maske sehen, dass er breit grinst. „Grüß Gott“, sag’ ich höflich und laut, um mein Herzklopfe­n zu übertönen, und bekomme ein freundlich­es „Kann ich bitte ihren Ausweis sehen“, zurück. Der Beamte schaut in den Innenraum meines Autos, fragt warum ich wo und wie lange war. Ich erkläre es ihm ehrlich, ausschweif­end und emotional. Er gibt mir meinen Ausweis zurück und sagt „Gute Fahrt“, und mit „Dankeschön, auf Wiedersehn“, lege ich erleichter­t den Gang ein, und fahre durch die Kontrollst­elle an mehreren Polizeibea­mten vorbei, die ich alle dankbar anlächle. Ein Hochgefühl stellt sich ein. Ich habe es geschafft. Ich hatte Glück. Nachdem ich von der Autobahn abgefahren bin, halte ich bei nächster Gelegenhei­t an, weil ich weiß, dass meine Tochter auf Nachricht wartet, ob alles gut gegangen ist. Statt vieler Worte schicke ich ein Selfie mit dem Taucher-Ok.

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FOTOS: DONNER In diese mal längere, mal kürzere Schlange nach dem Pfändertun­nel reihen sich die Wiedereinr­eiser ein.
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Selfie eines glückliche­n Wiedersehe­ns mit meiner Tochter Katharina und ihrer Familie nach neun Wochen. Auch wenn wir in coronasich­erem Abstand und im Garten sitzen, fühlt es sich wie ein Wiedersehe­nsfest an.

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