Wirtschaft driftet dramatisch auseinander
Arbeitslosenzahlen steigen stark – Einigen Branchen geht es laut Gewerkschaft „exzellent“
- Der Mann ist 31 Jahre alt, Ausländer, kam aber schon als Siebenjähriger mit den Eltern ins Oberallgäu. Er hat Werkzeugmechaniker gelernt. Im Herbst vergangenen Jahres, sagt er, wollte ihn noch eine Firma von seinem Arbeitgeber abwerben. Fachkräfte in seiner Branche wurden zuletzt gesucht, „ich hätte nie gedacht, dass ich mir jemals Sorgen um den Arbeitsplatz machen muss.“Seit drei Wochen ist der junge Mann arbeitslos – betriebsbedingte Kündigung in der Corona-Krise. Die Arbeitslosenzahlen sind in Kempten und im Oberallgäu im April nach oben geschossen: Im Stadtbereich wurden 411 Personen entlassen, was eine Quotensteigerung um 34 Prozent bedeutet. Im Landkreis wurden es sogar 895 Arbeitslose mehr. Das sind 46Prozent mehr als im März.
Überall wird derzeit von dramatischen Folgen der Corona-Pandemie
gesprochen. Doch die Situation in der Region ist alles andere als einheitlich:
Betriebsschließungen aufgrund einer Überschuldung registrierte das Amtsgericht Kempten in den ersten Monaten dieses Jahres sogar weniger als die Jahre davor: Bislang gab es 160 sogenannte Insolvenzanträge, teilt Richter Robert Kriwanek mit. 2019 waren es im gleichen Zeitraum 180 Anträge, 2018 185 Anträge. Bei diesen Zahlen handle es sich nicht nur um Unternehmenszusammenbrüche, sondern auch um Privatinsolvenzen. Weit dramatischer waren die Zahlen während der Finanzkrise 2007: Innerhalb der ersten vier Monate des Jahres gab es 340 Anträge. Oftmals, ist die Einschätzung von Kriwanek, werden Firmen allerdings mit Zeitverzug insolvent.
Eine „Spaltung“der Wirtschaft nimmt Werner Roell von der Gewerkschaft Verdi wahr. Während der
Lebensmittelhandel „wie geschmiert läuft“, gebe es „dramatische Einbrüche“beim Textilhandel. Er gebe aufgrund von Rückmeldungen vieler Beschäftigter davon aus, dass „ein spürbarer Anteil kleinerer Läden gar nicht mehr aufmacht“. Auch in der Papierbranche gebe es eine Polarisierung: „Druckereien haben Probleme, bei Verpackungsherstellern läuft es exzellent.“
Die Politik versucht notleidende Unternehmen mit einer großzügigen Kurzarbeiterregelung zu unterstützen. In Kempten haben 842, im Oberallgäu 1795 Betriebe Anträge bei der Arbeitsagentur eingereicht. Diese Firmen haben knapp 33 000 Beschäftigte – das ist ein Drittel der insgesamt 93 000 sozialversicherungspflichtigen Arbeitnehmer in der Region, sagt Arbeitsagentur-Sprecher Reinhold Huber.
Auch beim Kurzarbeiter-Geld gibt es große Unterschiede. Gewerkschafter Roell streicht hier die Bedeutung
der Tarifverträge heraus: Wo es diese gebe, seien „fast überall Aufschläge ausgehandelt“worden. Arbeitnehmer müssten dort keine allzugroßen Gehaltseinbußen fürchten. „Viele andere Betriebe legen dagegen nichts drauf“, sagt Roell. „Und wer vorher schon schlecht verdient hat und jetzt auf 60 Prozent des Lohns angewiesen ist“, könne schnell sozial abgleiten. Da gehe es nicht nur um Beschäftigte im Gaststättenbereich. Auch manche Ärzte und Rechtsanwälte sind Roell zufolge zu keinen Aufschlägen bereit.
Viele der neuen Arbeitslosen im April kommen zwar aus dem Bereich Tourismus (306), stark betroffen sind aber auch Beschäftigte des verarbeitenden Gewerbes (275). Der 31-jährige Werkzeugmechaniker bleibt mit seiner Facharbeiterausbildung zuversichtlich: „Wenn das alles vorbei ist, finde ich sicher schnell wieder was.“